Spaziergang in die Vergangenheit (10): Das Atelierhaus Lützowstraße 60a

Das Haus am Lützowplatz (HaL) baut (mittendran vom 2. Februar 2024), und zwar ein Atelierhaus hinter der heutigen Galerie auf einem seit Jahren brachliegenden Gelände. Was bei der Ausstellungseröffnung am 9. Februar 2024, bei der dieser Plan verkündet und das Modell gezeigt wurde, niemandem ein- oder aufgefallen war, ist der Umstand, dass in unmittelbarer Nähe, keine 50 Meter vom geplanten Neubau entfernt, bereits vor mehr als 100 Jahren und bis zum 2. Weltkrieg ein Ateliergebäude stand. Dieses Atelierhaus hatte die Adresse Lützowstraße 60a und lag im Hinterhof des Gebäudes Lützowstraße 60/60a. Es grenzte an den Gartenteil des Hauses Lützowplatz 9 (heute 5) (Bild 1).

Bild 1: Grundstückplan der Häuser Lützowstrasse 60 und 60a. Das Grundstück 60a (rot) war im Februar 1938 an das Deutsche Reich verkauft worden, das dazugehörige Gartenstück (blau) zusammen mit den Haus Lützowplatz 9 (blau, straffiert) im Dezember des gleichen Jahres an den Verein Berliner Künstler. Mit einem Kreis markiert ist das Atelierhaus Lützowstraße 60a (Quelle: Wiedergutmachungsakte im Landesarchiv Berlin, B Rep. 025-05 Nr. 204/49, Blatt 80).

Seine Besonderheit: Es hatte „vor dem eigentlichen Arbeitsraum einen Glaskasten von 4,75 m Tiefe und 5 m Breite, der sich in ganzer Breite nach dem ersten hin öffnet. Die in denselben gestellten Modelle zeigen die gleiche Beleuchtung wie auf der Straße. Der Maler selbst steht bei seiner Arbeit im Atelier oder im Glaskasten …“ (1). Das von Max Ravoth (1850-1923) geplante Atelierhaus wurde 1887 errichtet (Bild 2), zusammen mit dem Wohnhaus an der Lützowstraße 60, das ihm gehörte. Er hatte es ein Jahr zuvor von den Kilianschen Erben gekauft. Bereits im Jahr 1887, als das neue Wohnhaus noch im Bau begriffen war, hatte Prof. Werner Schuch (1843-1918) dort sein Atelier, ein Historien- und Landschaftsmaler und Architekt. Ravoth selbst wohnte und arbeitete im Vorderhaus nach dessen Fertigstellung. Ab 1888 ist das mit zwei Seitenflügeln und einem Querflügel gebaute Haus aufgeteilt in die Nummern 60 (Eigentümer: Ravoth) und 60a (Eigentümer: Seimert) (Bild 3).

Bild 2: Atelierhaus in der Lützowstraße 60a. Aus: Goldschmidt 1896 (1), S. 263.

Es finden sich nach Fertigstellung mehrere Maler unter den beiden Adressen, es ist jedoch nicht immer klar, wer im Atelierhaus arbeitete und wer im Vorderhaus. 1889 hatte Ravoth das Haus verkauft und war verzogen (Bülowstraße 3, ab 1891 in der Dörnbergstraße 7 bis 1923), und es wohnten weiterhin Kunstmaler an beiden Adressen. 1891 war es jedoch nur noch ein Kunstmaler in der Nr. 60a, Ernst Albert Fischer-Cörlin (1853-1932), ein Meisterschüler des Historienmalers Anton von Werner (1853-1915). In den Jahren 1892 und 1893 arbeitete dort der Landschaftsmaler Georg Lemm (1867-1940), 1894 und 1895 der Genremaler Wilhelm Auberlen (1860-1948), von 1894 bis 1900 der Orientmaler Max Rabes (1868-1944), 1896 bis 1925 der ungarische Kunstmaler Franz (Ference) Paczka (1856-1928) und seine malende deutsche Ehefrau Cornelia Paczka-Wagner (1864 – nach 1930), die im Verein Berliner Künstlerinnen aktiv war. Sie war dort 1921 und 1922 als Bildhauerin notiert. Nachdem ihr Mann 1925 verstarb, war sie bis 1931 als Mieterin des Ateliers verzeichnet (Kunstmalerin, ab 1927 Bildhauerin), dann verschwand sie aus dem Adressbuch. Ihr Verbleib und ihr Todesdatum sind nicht bekannt.

Bild 3: Fassade des Wohnhauses Lützowstraße 60/60a. Aus: Wilhelm Klee, Neue Berliner Bauten 1890-91. Berlin, Verlag von Eugen Hokenholz 1891, Seite 29.

Ab 1898 arbeitete im Atelierhaus Jakob Alberts (1860-1941), Gründungsmitglied der in diesem Jahr ins Leben gerufenen Gruppe XI, dem Vorläufer der Berliner Secession. Er lehrte Porträtmalerei unter anderem im Verein Berliner Künstlerinnen (ab 1893 und bis 1910 in der Potsdamer Straße 39, wo heute die Camaro-Stiftung ihren Sitz hat), und eine seiner Schülerinnen dort war Paula Modersohn-Becker (1876-1907). Jakob Alberts blieb bis 1911, dann verzog er nach Hamburg; die Sommermonate hatte er regelmäßig in seiner nordfriesischen Heimat verbracht. 1901 war statt Max Rabes der Kupferstecher Hans Meyer (1866-1919) Mieter in der Lützowstraße 60a, 1902 ein Kunstmaler C. Goebel, 1903 – 1907 Adolf Obst (1869-1945), ein Landschaftsmaler, 1908-1932 der Genremaler Reinhold Breßler (1868-1945), und 1909-1933 ein Bildhauer, A. Bieselt, der 1920 unter Vergolder firmierte und ab 1921 Innenarchitekt war. Im Jahr 1933 waren gleich zwei neue Bildhauer registriert: ein M. Fichte und Josef Thorak (1889-1952), der sich gerade anschickte, Hitlers Lieblingsbildhauer zu werden (2). 1934 kommt ein Kunstmaler D. Rogalsky hinzu. 1935 bis 1937 sind der Innenarchitekt Bieselt, der Bildhauer Fichte und ein Kunstmaler Fahrendorf in der Nr. 60a registriert, 1938 ist die Situation vergleichbar, außer dass statt des Malers Fahrendorf eine Malerin eingezogen ist, E. Grossmann. Aber Josef Thorak hatte das Atelier weiterhin genutzt: am 10. Februar 1937 besuchten Adolf Hitler und Hermann Goebbels Josef Thorak in seinem Atelier, um die Monumentalskulpturen für den deutschen Pavillon der Pariser Weltausstellung 1937 zu besichtigen. 1939 war Thorak nach München gezogen in sein von Albert Speer entworfenes Nationalatelier.

Bild 4: Das Wohnhaus Lützowstraße 60/60a (rechts) sowie 61, 1938 kurz nach dem Umbau für die Heeresplankammer. (Quelle: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Akte zur Heeresplankammer).

In all den Jahren wechselten die Hauseigentümer von Lützowstraße 60 und 60a gelegentlich. Ab 1920 war Egon Sally Fürstenberg Eigner des Hausteils mit der Nr. 60. Im Jahr 1938 hatte das Finanzministerium (Militärabteilung) die beiden Häuser von ihren privaten Besitzern, darunter Fürstenberg, aufgekauft und umbauen lassen (Bild 4). Hier zog am 1. Oktober 1938 die Heeresplankammer mit etwa 300 Angestellten und Beamten ein. Deren Aufgabe war die Herstellung von geologischen und geografischen Karten der Nachbarländer, die das Reich zu überfallen plante. Das Atelierhaus wurde vermutlich zu einer Druckerei umfunktioniert. Die Heeresplankammer verblieb hier bis 1943, als sie wegen der Bombardierungen Berlins nach Saalfeld in Thüringen verlagert wurde. Das Haus Lützowstraße 60 und 60a sowie die Nachbarhäuser wurden durch die Bombardierung und die Kämpfe im Frühjahr 1945 weitgehend zerstört (Bild 5), aber das Atelierhaus hat noch einige Zeit im und nach dem Krieg als Ausweichquartier der Druckerei Bogdan Gisevius gedient (3).

Bild 5: Fassade nach Zerstörung 1943/45. (Quelle: Foto im Landesarchiv, Archiv-Nr. B Rep. 202-01-94 Nr. 03356, mit freundlicher Genehmigung).

Möge diese historische Nachbarschaft dem neuen Atelierhaus des HaL zur Anschauung dienen: Spiegel der zeitgenössischen Kunst zu sein, in guten wie in schlechten Zeiten.

Literatur

  1. Rudolf Goldschmidt. IV: Atelierhäuser. In: Berlin und Seine Bauten II und III (Der Hochbau). Berlin 1896, Seite 264.
  2. Paul Enck. Nazikunst im Lützow-Viertel: Noch mehr nackte Helden. Mittendran vom 13. Juni 2023.
  3. https://www.bb-wa.de/images/bbwa/pdf/BerlinerWirtschaft/BW11_2016.pdf

Paul Enck

Schreibe einen Kommentar