Die Familie von Franz Ledermann
(Teil 6)

aus der Serie „Jüdische Geschichte im Lützow-Viertel“ (4.6), von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com.

Die Informationen, die es zum Rechtsanwalt Dr. Franz Ledermann, seinem Leben und seinem Schicksal noch vor einem halben Jahr (Mitte 2022) gab, waren minimal, einzig seine kurze Zeit in Amsterdam zwischen 1933 und 1942 war in einigen Aspekten bekannt: erneute Ausbildung als Jurist, um in den Niederlanden juristisch verfolgten Juden helfen zu können;  nach der Besetzung Hollands durch Nazi-Deutschland 1942 die zunehmend schwierigere familiäre Situation, dokumentiert in den „Briefen von den Ledermanns“ (1) bis zur Deportation nach Westerbrok und der Ermordung der Familie in Auschwitz (1943).

Auch im Vergleich zu den biografischen Informationen anderer jüdischer Rechtsanwälte, die nach 1933 ihren Beruf verloren, machen sich die 10 Zeilen in der Dokumentation „Anwälte ohne Recht“ (2) eher mager; nur über wenige der insgesamt mehr als 800 Rechtsanwälte war und ist offenbar weniger bekannt, und auch in der Neuauflage des Buches 2022 hat sich die Situation kaum gebessert. Dabei enthalten genau diese wenigen Zeilen die entscheidende Information, die unsere Rekonstruktion der Familiengeschichte erst möglich gemacht hat: In der Quellenangabe am Ende der Zeilen steht die Abkürzung „BAL, PAK“, und das steht für „Bundesarchiv Koblenz Abt. Berlin-Lichterfelde, Personalkartei des Reichsjustizministers“.

Es gab und gibt also eine Personalakte des Dr. Franz Ledermann, wie sich schnell herausstellte bei einem Check der Archivdatenbank des Bundesarchivs: R 3000 / 66008. Bei einem Besuch im Archiv (am 10. Dezember 2022) konnte die Akte eingesehen und kopiert werden, die Auswertung findet sich unten. Wichtigstes Ergebnis aber war die erstmalige und neue Erkenntnis, dass die Familie Ledermann aus Ostrow in der preußischen Provinz Posen stammte; dies haben wir im ersten Teil dieser Familiengeschichte (mittendran.de vom 18. November 2022) bereits beschrieben. Hier und heute geht es um die persönliche Geschichte des Dr. Franz Ledermann.

Ausbildung und Studium

Franz Ledermann wurde in Hirschberg am 16. Oktober 1889 als letztes von drei Kindern des Ehepaars Benno Ledermann und seiner Frau Lucie, geborene Schachtel geboren. Sein Vater hatte kurz zuvor seine Tätigkeit als Richter im Staatsdienst beendet und sich in Hirschberg im Riesengebirge niedergelassen. Ähnlich wie sein Bruder Curd (mittendran.de vom 12. Januar 2023), der 10 Jahre älter war als er, ging Franz Ledermann ab Ostern 1898 zum Königlichen Evangelischen Gymnasium in Hirschberg, wo er, nach sechs Jahren in der Unterstufe (Sexta bis Obersekunda) und zweieinhalb Jahren in der Oberstufe (Unterprima, Oberprima), zu Michaelis (September) 1907 das Abitur machte, ohne mündliche Prüfung als Einziger seines Jahrgangs (Bild 1). Zuvor hatte er allerdings ein Jahr (die Unterprima) wiederholen müssen.

Bild1: Karte Schlesien (markiert: Hirschberg), Stadtplan von Hirschberg (markiert: das Gymnasium), Foto des Gymnasiums in Hirschberg (Postkarte, um 1900) und Verzeichnis der Abiturienten im Schuljahr 1907-1908 aus dem Schuljahresbericht.

Dem Vorbild des Vaters folgend studierte Franz Ledermann Jurisprudenz – und folgte dabei seinem Bruder, der sich in München, Freiburg, Berlin und Breslau immatrikulierte und in Rostock promovierte; Franz studierte in Breslau (WS 1907/8), München (SS 1908), Genf (WS 1908/9) und Berlin (SS 1909) (Bild 2). Seine Wohnadressen in München (Barerstrasse 37/3) und Berlin (Flensburger Str. 23) sind bekannt, die entsprechenden Informationen aus Breslau und Genf fehlen.

Bild 2: Immatrikulationsbescheinigungen der Universitäten München, Berlin und Genf.

Am 15. Dezember 1910 legte er in Breslau die erste juristische Staatsprüfung ab (Note: gut).  Zwei Monate später, am 3. Februar 1911, absolvierte er in Breslau das Rigorosum (die mündliche Doktor-Prüfung) nach Vorlage einer Dissertationsschrift mit dem Titel „Die Gesetzesumgehung im römischen und bürgerlichen Recht“ – auch dies vergleichbar zur Promotion seines Bruders. Sie wurde abgedruckt in Der Bote aus dem Riesengebirge 1912 (Bild 3). Referenten waren die Breslauer Professoren Rudolf Leonhard (1851-1921) und Richard Schott (1872-1934).

Zwar nennt auch der Lebenslauf in seiner Dissertation seine erste Ausbildungsstation (Bolkenhain) (s. Bild 3), aber die Personalakte, angelegt mit der Vereidigung am 6. Januar 1911, ist hier ausführlicher und listet alle Ausbildungsstationen und die genaue Anzahl der Arbeitstage bis Ernennung zum Assessor am 15. Januar 1916. Die sieben Stationen waren die folgenden: Station Landgericht (19 Monate) in Bolkenhain, Hermsdorf u.K. und Hirschberg in Schlesien; Staatsanwaltschaft in Berlin (3 Monate); Rechtsanwalt/Notariat in Posen (5 Monate); Amtsgericht in Beuthen (9 Monate) und Oberlandesgericht in Breslau (6 Monate), nebst Urlaubstagen, Krankheit und Kriegsdienst insgesamt 4 Jahre, womit die Prüfungsvoraussetzungen erfüllt waren. Die Ausbildungsstation beim Rechtsanwalt fand in der Praxis seines Schwagers Felix Kaempfer, die im Notariat bei dessen Freund Placzek in Posen statt (s. mittendran vom 11. Februar 2023). In seiner Berliner Ausbildungsphase (Staatsanwaltschaft) wohnte er in der Bambergerstr. 59 zur Untermiete bei Herbst.

Bild 3: Titelblatt und Lebenslauf aus der Dissertationsschrift von Franz Ledermann von 1912.

Militärdienst im 1. Weltkrieg

Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde er am 19. Februar 1915 zum Infanterie-Regiment 22 (Füsilier-Regiment 22 Gleiwitz) eingezogen, aber nach wenigen Tagen, am 28. Februar 1915, als dienstunbrauchbar wieder entlassen, weil er an einem älteren Nierenleiden erkrankte. Am 18. Mai 1915 beantragte der Präsident des Oberlandesgerichts Breslau beim Justizministerium die Zulassung zur 2. Staatsprüfung, die als „Notprüfung“ (wegen des Krieges) am 23. Oktober 1915 stattfand und die er mit der Note „gut“ bestand. Er meldete sich erneut am 15. Oktober 1915 als Freiwilliger zum Kriegsdienst und wurde dem 1. Ersatzbataillon Füsilier-Regiment Nr. 33 in Brandenburg an der Havel zugeteilt. Er erkrankte nach einigen Monaten Ausbildungszeit erneut an den Nieren, verbrachte sechs Wochen im Reservelazarett II in Brandenburg und wurde wieder als dienstuntauglich entlassen.

Berufstätigkeit

Er wurde am 15. Januar 1916 als Gerichtsassessor in Berlin eingestellt und blieb bis zum Kriegsende in Berlin in dieser Funktion. Da er in dieser Zeit nicht im Adressbuch von Berlin gelistet ist, können wir nur vermuten, dass er zumindest jetzt bei seinem Bruder in der Kochstraße 49 wohnte, wo dieser Wohnung und Büro hatte. Dafür spricht auch, dass nach dessen Tod am 21. September 1918 Franz mit der gleichen Adresse im Adressbuch vermerkt ist.

Am 10. Oktober 1918 wurde Dr. Franz Ledermann als Rechtsanwalt beim Landgericht I zugelassen, am 21. Juni 1919 erfolgte auch die Zulassung beim Landgericht 2 und 3 (die Abkürzung dahinter, R 7,7h, in der Personalakte entzieht sich bislang einer Erklärung). Am 10. Februar 1928 beantragte er die Zulassung als Notar – dies wurde von der Anwaltskammer abgelehnt, da er die notwendige Wartezeit noch nicht erfüllt habe. Die Zulassung erfolgte dann am 16. November 1928 für dem Amtsgerichtsbezirk Schöneberg, zugleich (28. Februar 1929) erfolgte die Zulassung als Rechtsanwalt im Bezirk Schöneberg. Dies steht im Zusammenhang mit dem Umzug von der Kochstraße (Bezirk Mitte) in die Genthinerstraße, die zum Bezirk Schöneberg gehörte. Wie schon beschrieben (mittendran vom 13. März 2023), hatten Franz Ledermann und Ilse Citroen am 15. Oktober 1924 geheiratet und waren bei der Geburt der zweiten Tochter (Susanne, 1928) in die neue Wohnung in die Genthinerstraße 5A umgezogen. Dort blieb ihnen noch fünf Jahre.

Der Anfang vom Ende

Wir wissen nicht, wie Franz und seine Familie die zunehmende antisemitische Stimmung in Berlin wahrgenommen haben, aber die Machtergreifung der Nazis am 3. Januar 1933 und die dann in rascher Folge einsetzende anti-jüdische Gesetzgebung veranlassten sie offenbar, das Land zu verlassen. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 betraf nicht nur Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst, sondern auch die Rechtsanwälte, die zwar Freiberufler waren, aber der Rechtsaufsicht durch das Ministerium unterstanden – daher gab es überhaupt eine Akte Dr. Franz Ledermann im Bundesarchiv. Aufgrund dieses Gesetzes mussten alle nicht-arischen Beamten im öffentlichen Dienst entlassen werden. Am gleichen Tag wurde das „Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ erlassen und führte zum Berufsverbot aller nicht-arischen Rechtsanwälte – sie durften danach nur noch jüdische Personen und Firmen vertreten (2).

Franz Ledermann hatte kurz darauf, wie fast alle seine 1800 jüdischen Kollegen in Berlin (von insgesamt 3400 zugelassenen Rechtsanwälten), einen Bescheid erhalten, in dem ihm die Rechtsvertretung von Nicht-Juden untersagt wurde. Eine rechtliche Eingabe gegen diese Entscheidung (Schreiben vom 10. April 1933 unter Verweis auf die Einbürgerungsurkunde seines Urgroßvaters, Gerson Ledermann) blieb folgenlos und führte dazu, dass er mit sofortiger Wirkung die Gerichtsgebäude nicht mehr betreten durfte. In kurzer Folge wurden die Zulassungen bei den Landgerichten I (15. Juni 1933), II (26. Juni 1933) und III (23. Juni 1933) sowie beim Amtsgericht Berlin-Schöneberg (24. Juni 1933) gelöscht (3).

Abschiedskonzert

Ausweislich des Gästebuchs der Familie Ledermann (4) wurden zwischen November 1930 und April 1933 vierzehn Hauskonzerte veranstaltet, das erste Konzert am 23. November 1930 und das letzte, hier „Abschiedskonzert“ genannte Konzert am 14. April 1933 – wenige Tage später verließ die Familie ihre Berliner Heimat, die sie nicht wiedersehen sollte. Dabei muss Franz Ledermann bereits sehr viel früher an Hauskonzerten beteiligt gewesen sein, schrieb er doch seine köstliche Glosse über die Schwierigkeiten der Rollenverteilung bei solchen kammermusikalischen Abenden („Auf Wiedersehn bei der Fermate“ (Bild 4)) bereits viele Jahre früher (1924) (5) und muss bereits damals auf beträchtliche Erfahrungen zurückgegriffen haben können. Wann und woher er seine musikalische Ausbildung bekommen hat ist nicht bekannt.

Bild 4: Originaltext des Artikels aus dem Berliner Tagblatt (5) vom 9.5.1924.

Diese 14 Hauskonzerte in knapp drei Jahren fanden offensichtlich alle in der Wohnung der Ledermanns in der Genthinerstraße 5A (heute: da, wo die Hausnummer 14 ist) statt, die – soweit die Erinnerung der Tochter Barbara – groß war und Platz für zwei Flügel hatte – eine Inspektion der Bauakte zeigt eine ca. 400 qm große Wohnung im ersten Stock (Bild 5), zu der möglicherweise noch im Erdgeschoß zugemietete Büroräume kamen. Dort war bei Einzug 1924 noch eine Arztpraxis untergebracht, später eine Versicherungsgesellschaft – genug Platz also für ein Ehepaar mit zwei Kindern, einem Kindermädchen, und für zwei Flügel.

Bild 5: Fassadenzeichnung und Grundriss der Wohnung in der Genthiner Straße 5A (heute Nr. 10) nebst Aktendeckel aus dem Landesarchivs Berlin, Akte Nr. B Rep. 202 Nr. 4086.

Die zu den Konzerten versammelten Musiker (zwischen drei und sieben, für Trios bis Septetts) wurden dabei jeweils von wechselnd großen (oder kleinen) Zuhörerschaften begleitet, im Mittel waren es allerdings eher kleine Audienzen, die zudem oft aus dem engeren Familienkreis kamen: Seine Schwester Käthe Kaempfer war oftmals anwesend (7 mal), und die Schwiegermutter („Mutti“) Ilse Citroen geb. Philippi auch, auch Neffe Heinz Kaempfert, Sohn der Käthe Kaempfer; das Abschiedskonzert am Samstag, den 29. April 1933 hatte die meisten Zuhörer (Bild 6). Es wurden an diesem Abend Brahms Septett op. 18, Schuberts Quintett C-Dur und Brahms Septett op. 36 gespielt.

Bild 6: Screenshot der Seite des Gästebuchs mit dem Konzert vom 29. April 1933, dem letzten Hauskonzert in Berlin.

Soweit dies mit Hilfe der Adressbücher möglich war, wurden die Namen der Zuhörer aus dem Gästebuch identifiziert und zugeordnet: an diesem Abend waren neben den Musikern 14 Personen, darunter Käthe und Heinz Kaempfer und Ilse Citroen sowie Frau Lotte Lichtenstein (Wilmersdorf, Kaiserallee 172), Rechtsanwalt und Notar Georg Arnheim und seine Frau Elke, (Brunnenstraße 194), die Witwe Martha Liebrecht (Wilmersdorf, Kaiserplatz 1), der Ingenieur Dr. Anton Macholl und seine Frau Adele (Heilbronner Str. 5), Gertrud Moses (Wilmersdorf, Augustastr. 52), Marie Wohlgemuth, Kleiderkonfektionistin (Neukölln, Reuterstr. 54), Gertrud Caro (Speyererstrasse 22) und weitere Personen, deren Namen nicht lesbar bzw. zuzuordnen waren. Wir vermuten, dass es sich insgesamt um die persönlichen Freunde der Familie handelte, die hier Abschied nahmen. Das nächste Konzert der Familie Ledermann fand – laut Gästebuch – am 14. Januar 1934 in Amsterdam statt.

Literatur:

  1. Letters from the Ledermanns. Herausgegeben vom Yad Vachem Archiv, Jerusalem, übersetzt von Catherine Yekimov, Inge R und Lizze Vrijsen. Afori Publishing ohne Ort (gedruckt in Polen) 2016.
  2. Simone Ladwig-Winters. Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933. bebra Verlag Berlin-Brandenburg (2. Auflage) 1998 (3. Auflage 2022).
  3. Akten: A Rep. 343; Nr. 1232 (Allg. Angelegenheiten der Rechtsanwälte); A Rep. 343; Nr. 1098 (Liste der Rechtsanwälte mit Vertretungsverbot) im Landesarchiv Berlin; Akte R 3000 / 660084 im Bundesarchiv Berlin Lichterfelde.
  4. Das Gästebuch des Ledermann-Familie hat das Yad Vashem Archiv Jerusalem ins Internet gestellt: https://collections.ushmm.org/search/catalog/irn515249#?rsc=24682&cv=0&c=0&m=0&s=0&xywh=-482%2C-159%2C3556%2C3162.
  5. F.A.Ledermann. Zur Naturgeschichte des Dilettantenquartetts. Berliner Tagblatt und Handelszeitung am 9. Mai 1924. Diese amüsant-satirische Selbstreflektion eines Kammermusikers wurde über viele Jahre ohne die Nennung des Autors in Musikerkreisen zirkuliert und 1936 abgedruckt in einem Buch von E.Heimeran: Das stillvergnügte Streichquartett. Heimeran Verlag München 1936. Erst in der 7. Auflage 1941 wurde der Verfasser genannt.

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