Die Familie von Franz Ledermann
(Teil 3)

Ein Beitrag aus der Serie „Jüdische Geschichte im Lützow-Viertel“ (4.3), von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com.

In den ersten beiden Teilen dieser Geschichte der Familie Ledermann hat sich der Lebensmittelpunkt der Familie von Ostrowo in Posen, wo der Großvater Gerson Ledermann 1809 geboren worden war (s. mittendran vom 18. November 2022), nach Breslau in Schlesien verlegt, und erst die nächste Generation, die Kinder von Benjamin Benno Ledermann, der 1911 in Breslau verstarb, und seiner Frau Lucie, geborene Schachtel (s. mittendran vom 11. Dezember 2022) kommen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Berlin. Der erste und älteste ist Curt Otto Ledermann.

Der Bruder: Curt Otto Ledermann

Noch weniger als Ehefrauen sind Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit (in Preußen in dieser Zeit 24 Jahre) öffentlich sichtbar, mit Ausnahme von Abiturienten, deren Abschluss in den jährlich von den Schulen verpflichtend abzuliefernden Schuljahresberichten gelistet wurden. Curt Ledermann, der am 18. August 1879 in Beuthen (Oberschlesien) geboren worden war, machte zu Ostern 1898 am Königlichen Evangelischen Gymnasium in Hirschberg das Abitur, nach insgesamt 10 Schuljahren und 2 Jahren in der Prima (1) (Bild 1). Er war wohl kein besonders guter Schüler: Laut Reifezeugnis, das er in Rostock (s. unten) vorlegen musste, war er in “ Latein gut, alles andere: genügend“.

Evangelisches Gymnasium in Hirschberg (Foto: Festschrift des Gymnasiums (1))

Eine Militärzeit musste er danach nicht absolvieren: Es gab zwar eine allgemeine Wehrpflicht, aber nach dem Frieden zu Versailles am Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 wurde die Größe des stehenden Heeres auf eine Friedenspräsenzstärke von ca. 400.000 (für 1881) festgelegt – allerdings ohne die sogenannten Einjährigen, die eine höhere Schule absolvieren hatten. „Doch die rasch wachsende Bevölkerung seit 1871 führte dazu, dass zwischen Reichsgründung und dem Beginn des 1 WK nur 63 % der wehrpflichtigen Männer zu den Fahnen gerufen wurden“ (2). Studierte Juden konnten traditionell nicht in die Armee eintreten, da sie nicht Offiziere werden konnten: „Während des Kaiserreiches gab es in der preußischen Armee keine aktiven jüdischen Offiziere und nach 1885 auch keine jüdischen Reserveoffiziere“ (3). Das änderte sich erst mit dem 1. Weltkrieg.

Curt Ledermann konnte also unmittelbar nach dem Abitur mit dem Studium der Rechtswissenschaften beginnen, und während sein Vater das Studium in Breslau begonnen und beendet hatte, ohne aus Schlesien herauszukommen, nahm Curt sich die Freiheit, andere Universitäten zu besuchen und von den dortigen Professoren zu lernen. Gemäß den Angaben in seinem handgeschriebenen Lebenslauf anlässlich seiner Promotion (s. unten) studierte er für ein Semester in Freiburg im Breisgau (Sommer-Semester – SS – 1898) (Bild 2), für zwei Semester (WS 1898/99, SS 1899) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und für drei Semester in Breslau (WS 1899/1900 bis WS 1900/1901). Dort legte er am 14. Januar 1901 die erste juristische Staatsprüfung beim königlichen Oberlandesgericht Breslau ab, am 22. Juni 1901 wurde er zum Referendar ernannt und für neun Monate an das Amtsgericht Wüstegiersdorf in Niederschlesien (heute: Gluszyca, Polen) versetzt.

Bild 2: Immatrikulationsbescheid der Universität Freiburg im Breisgau vom SS 1898

Am 31. Januar 1902 promovierte er zum Dr. jur. an der juristischen Fakultät der Universität Rostock (Bild 3). Seine Dissertationsschrift hatte das Thema „Worin unterscheiden sich die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über das Recht des Besitzers auf Ersatz von Verwendungen (§ 994 ff.) von den Vorschriften des corpus juris civilis?“ (4), verglich also das in Preußen geltende bürgerliche Recht mit den Vorschriften des antiken römischen Rechts. Warum er dazu nach Rostock ging und nicht in Breslau promovierte, ist uns nicht gelungen herauszubekommen; es ist nicht einmal klar, ob er dazu überhaupt nach Rostock gehen musste – außer natürlich für die finale Promotionsprüfung am 25. Januar 1902 (Rigorosum).

Bild 3: Promotionsurkunde der Universität Rostock vom 31.1.1902

Es könnte etwas mit seiner Liebe zur lateinischen Sprache zu tun haben. Ein Hinweis gibt uns immerhin die Tatsache, dass das Gutachten zur Dissertation in Rostock von dem dortigen Professor Franz Bernhöft (1852 – 1933) erstellt wurde, einem ausgewiesenen Experten für römisches Recht, der von 1877 bis 1922 ordentlicher Professor für bürgerliches und römisches Recht in Rostock war. Vermutlich – aber das ist hier eine Spekulation – war es so wie im richtigen Leben: Er kannte in Breslau einen Professor, der ihm sagte, mit diesem Thema (Vergleich von römischem Recht und bürgerliches Gesetzbuch bei einer speziellen Rechtsfrage) ginge er am besten zu Bernhöft nach Rostock, möglicherweise ein ehemaliger Bernhöft-Schüler … dann vielleicht noch eine vertrauliche Nachricht an Bernhöft, die nicht in den Akten erscheint … Das Universitätsarchiv in Rostock teilte auf Anfrage mit, dass nicht alle Korrespondenz archiviert wurde.

Über seine weiteren Ausbildungsstationen während des Referendariats und als Assessor ist uns gegenwärtig nur wenig bekannt, aber im Adressbuch von Beuthen 1905 ist er noch als Gerichtsreferendar ausgewiesen. Aufgrund eines Artikels in der Zeitschrift des Berliner Anwaltsvereins (5) wissen wir, dass er seit 1907 in Berlin als Rechtsanwalt niedergelassen war. Laut Berliner Adressbuch der Jahre 1908 bis 1912 wohnte und arbeitete er in der Zimmerstraße 21 und war 1910 am Landgericht I zugelassen worden. Von 1913 bis zu seinem frühen Tod 1918 wohnte er dann in der Kochstraße 49 im Vorderhaus.

Normalerweise erfährt man über die Arbeit von Anwält*innen, insbesondere über ihre juristischen Mandate, wenig bis gar nichts, weil diese – ähnlich wie bei Ärzt*innen – der Schweigepflicht unterliegen – es sei denn, die juristischen Fälle berühren öffentliche Interessen und finden Niederschlag in Pressemitteilungen, in Amtsnotizen oder gar in Artikeln und Büchern. Zwei solcher Meldungen haben wir für die Berufstätigkeit von Curt Ledermann gefunden: Er vertrat 1913 einen Berliner Kaufmann in einem Rechtsstreit vor dem Mannheimer Amtsgericht über fünf fällige Wechsel, und er war einer von zwei Verteidigern einer des Mordes angeklagten jungen Frau, die im Berliner Tiergarten einen Freund erschossen haben sollte, die aber insistierte, der habe sich selbst zwei Kugeln in den Hinterkopf geschossen – ein Fall vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts I mit eher grotesken Zügen, die in einem Buchkapitel (6) in aller Ausführlichkeit beschrieben sind. Möglicherweise war er im letzteren Fall als Pflichtverteidiger eingesetzt worden.

Auch ohne die einjährige Wehrpflicht wurde er natürlich zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 zum Heer rekrutiert, aber wegen der fehlenden militärischen Ausbildung wurde er – mit 35 Jahren – „nur“ Gefreiter in der 4. Kompagnie des „Garde-Grenadier Regiments Nr. 3 (Regiment Elisabeth)“. Wo und wie lange er in Kampfhandlungen involviert war, war nicht zu ermitteln, aber er erkrankte in seiner Dienstzeit und starb „nach längerem Leiden“ kurz nach Ende des Krieges am 21. September 1918 im Hansa-Sanatorium (Lessingstraße 46 im Hansa-Viertel) (Bild 4).

Bild 4: Foto des Sanatoriums am Hansaplatz in Berlin (Quelle: Blätter für Architektur und Kunsthandwerk, Ausgabe II, 1889, Tafel 2, gemeinfrei).

Ungewöhnlich: Sein Tod wurde in zwei Standesamtsurkunden festgehalten. Zum einen meldete das „Kinderfräulein Agnes Neumann“, möglicherweise eine Angestellte oder Freiwillige in der Hansa-Klinik, seinen Tod im Standesamt Berlin XIIa (Moabit), und das Ersatz-Bataillon der Garde-Grenadier-Regiments Nr. 3 meldete am gleichen Tag seinen Tod im Standesamt Berlin I/II (Mitte), aber beide Urkunden enthalten keine Hinweise darauf, woran er gestorben ist (Bild 5).

Bild 5: Zwei Sterbeurkunden vom gleichen Tag für Curt Ledermann

In einem Artikel zu „Die Berliner Anwaltschaft im Ersten Weltkrieg“ von 2014 (5) steht immerhin, dass dies infolge einer im Krieg erlittenen Verletzung erfolgte, und in einer Todesanzeige der Familie im Berliner Tagblatt vom 24. September 1918 (Bild 6) heißt es, er starb „nach langem schwerem Leiden“. Er wurde in Hirschberg beigesetzt.

Bild 6: Todesanzeige: Berliner Tagblatt und Handelszeitung vom 24.9.1918

Die Anzeige wurde von den nächsten Verwandten aufgegeben, weist aber indirekt noch auf weitere Verwandtschaft hin: Er war nicht „Neffe“, d.h. Geschwister seiner Mutter – wenn es die gegeben hat – und seines Vaters (besagte „Bane“ Mahn, Teil 1; siehe mittendran vom 18. November 2022) waren 1918 nicht mehr am Leben, aber deren Kinder sind Cousins (Vettern) von Curt, vice versa, die den Krieg überlebt und heute noch Nachkommen haben könnten.Um dies zu prüfen, war ein erneuter Zugriff auf Ancestry nötig (danke, Michael): Das Ehepaar Philipp Mahn und seine Ehefrau Cäcilie, geborene Ledermann hatte drei Söhne: Eugen, geboren am 4. Februar 1871, der 1958 in Manchester/England verstarb, Löbel Ludwig, geboren am 25. August 1872, der 1939 nach Israel auswanderte, Max Bruno, geboren am 27. Januar 1878, der in Berlin eine Franziska Käthe Lichtenstein heiratete.

Die Familie Ledermann hat also noch mögliche lebende Verwandtschaft aus der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, die durch rechtzeitige Auswanderung dem Holocaust entgangen sind.

Literatur

1. Emil Rosenberg. Die Abiturienten des Hirschberger Gymnasiums von 1862 – 1912. In: Gymnasiums Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens Hirschberg i. Schl. 1912, Druck in Kommission bei P.Röbke (S. 62).

2. https://de.wikipedia.org/wiki/Wehrpflicht_in_Deutschland Wehrpflicht

3. https://www.spiegel.de/geschichte/juedische-soldaten-in-deutschen-armeen-grausame-taeuschung-a-946547.html

4. Curt Ledermann. Worin unterscheiden sich die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über das Recht des Besitzers auf Ersatz von Verwendungen (§ 994ff.) von den Vorschriften des corpus iuris civilis? Dissertationsschrift der juristischen Fakultät Rostock. Wüstegierdorf, Druck M.Jacob 1902.

5. Reinhard Hillebrand. Die Berliner Anwaltschaft im Ersten Weltkrieg. Berliner Anwaltsblatt H.3, 2014, S.75-83

6. Hugo Friedländer. Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung. 1911-1921, Band 12, S. 195-255: Ein Liebesdrama im Berliner Tiergarten (http://www.zeno.org/nid/20003607461)

 

 

 

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