Spaziergang mit Lia Hiltz und Paul Enck (14): Der Wintergarten

Bild 1: © Lia Hiltz

Das 30-jährige Jubiläum hat der Wintergarten neulich gefeiert (mittendran vom 25. September 2022) (Bild 1), mit einem Jubiläumsprogramm und viel Berliner Prominenz – dabei deutet die Namensgebung auf eine sehr viel ältere Tradition eines Berliner Varietés gleichen Namens hin, das allerdings an ganz anderer Stelle stand: Das Varieté Wintergarten in der Dorotheenstadt, an der nordwestlichen Ecke von Dorotheenstraße und Friedrichstraße, hatte seinen Namen vom Wintergarten des dort  1881 eröffneten „Central-Hotels“ (Bild 2).

Bild 2: Die Dorotheenstraße nach Norden zwischen der Neustädter Kirchstraße (Nr. 26) und der Friedrichsstraße (Nr. 18). Das mit einem blauen Pfeil markiert Haus ist die Nummer 21, das links davon stehende Haus (Nr. 22) war 1888 noch ein Wohnhaus, das bis kurz zuvor dem Schmied Jungbluth genannt Einicke gehörte und wo ab 1818 tatsächlich der Schmied Einicke seine Werkstatt hatte – die Familie zog 1837 über den Landwehrkanal an die Potsdamer Chaussee 30.

Der Bau des Central-Hotels markiert den Endpunkt der Entwicklung der „Dorotheenstadt“ genannten ersten großen Stadtweiterung Berlins über die alten Festungsgrenzen hinaus im Jahre 1670. Namensgeberin der Dorotheenstadt war die Kurfürstin Dorothee (1636 – 1689), die dieses nördlich der Allee „Unter den Linden“ gelegene und bis zur Spree reichende Gelände erhielt, das weitgehend aus Sumpfland „vor dem Spandauer Thore“ bestand. Die Kurfürstin siedelte dort zunächst Handwerker, dann aber vermehrt auch französische Hugenotten sowie Beamte und Höflinge des nahegelegenen Schlosses an (1). In der Dorotheenstraße, die bis 1822 die „Letzte Straße“ hieß (eben: die letzte Straße vor der Spree), hatten daher zwischen der Neustädter Kirchstraße und der Friedrichstraße (s. Bild 2) die Hugenotten seit 1705 das Maison d’Orange (s. mittendran vom 12.10.2022). Die Domgemeinde Berlin besaß in der Dorotheenstraße zwei Wohnhäuser, und der Schmied Einicke seit 1818 seine Werkstatt nebst Wohnhaus, nachdem er aus der Armee ausgetreten war und Haus und Hof von der Witwe des Goldschmieds Strauß gekauft hatte. Der Wandel der Dorotheenstadt im 19. Jahrhundert (2) führte dazu, dass aus den meist zweistöckigen Häusern einzelner Familien zunächst Mietshäuser mit vier bis fünf Stockwerken wurden. Im ausgehenden 19. Jahrhundert, in der Zeit um die Reichsgründung 1870, wurden Mietshäuser zunehmend durch Hotels, Verwaltungsgebäude und staatliche Institutionen wie z.B. die Universität verdrängt und ersetzt. Das Maison d’Orange, aber auch der Schmied Einicke,  verkauften Grund und Boden und zogen in eine günstigere Nachbarschaft: Beide kamen über den Landwehrkanal in die noch zu Schöneberg gehörende Friedrichs-Vorstadt, die später zum Berliner Lützow-Viertel wurde.

Das Varieté Wintergarten blieb von 1887 bis zu seiner Zerstörung 1944 am gleichen Ort – es wurde jedoch mehrfach um- und ausgebaut. Es war der Ort, an dem die ersten, heute primitiv anmutenden Formen der Filmvorführung (Bioscop genannt) gezeigt wurden, in dem berühmte Varietékünstler aus aller Welt auftraten, z.B. der Zauberkünstler Harry Houdini (1874-1926), und in der Claire Waldoff (1884-1957) und Otto Reutter (1870-1931) Chansons zum Besten gaben. Dass das Varieté Wintergarten am Ende wieder in die Nähe von Maison d’Orange und der Einicke’schen Schmiede zog, mit denen es in der Dorotheenstraße nachbarschaftlich vereint war, war nicht abzusehen: Nach dem 2. Weltkrieg gab es für kurze Zeit (1946-1955) ein Wintergarten Kino-Varieté in der Hasenheide, bis dann 1992 das Varieté in der Potsdamer Straße seinen jetzigen Betrieb aufnahm. Möge ihm ein mindestens ebenso langes Leben beschieden sein wie dem ersten Varieté dieses Namens in Berlin, das immerhin 57 Jahre lang bestand.

(1) Erika Schachinger. Die Dorotheenstadt 1673 – 1708. Eine Berliner Vorstadt. Köln, Böhlau Verlag 2001

(2) Volker Wagner. Die Dorotheenstadt im 19. Jahrhundert. Vom vorstädtischen Wohnviertel barocker Prägung zu einem Teil der modernen Berliner City. Berlin: De Gruyter Verlag 1998.

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