Spaziergang in die Vergangenheit (21): Die dritte Seite des Lützowplatzes

Die dritte Seite des Lützowplatzes ist die Seite, die heute am wenigsten Beachtung findet, sie ist architektonisch eher langweilig. Das war nicht immer so: hier standen seit der Internationalen Bauausstellung 1987 die preisgekrönten Ungers-Häuser, deren Abriss 2013 viel Unmut erzeugt hatte, nicht nur bei den Bewohnern (1). Nach dem Zweiten Weltkrieg war hier lange Zeit eine Brache, unbebautes Land, nachdem die Trümmer der Bombardierungen geräumt waren. Aber was war hier zuvor?

Sucht man nach Bildern dieser Seite des Lützowplatzes aus der Zeit vor dem Krieg, wird man in den üblichen Bildquellen nicht leicht fündig. Klar, die gegenüberliegende Seite, dort wo heute von der alten Bebauung nur noch die Hausnummern 7 (Lützow-Bar) und 9 (Galerie Haus am Lützowplatz) übrig sind, das war die Schokoladenseite des Platzes, unzählige Bildpostkarten gibt es von dieser Seite, viele Fotografen haben die Stadtvillen verewigt (Bild 1), prominente Berliner wohnten hier um und nach der Jahrhundertwende (1900), insbesondere nachdem die Herkulesbrücke (1890) und der Herkulesbrunnen errichtet worden waren (1902) und der Platz von einem Kohlen- und Holzlager in ein Schmuckstück verwandelt worden war. Auch die zweite Seite, dort wo heute das Hotel Berlin, Berlin steht, war ein Schmuckstück (Bild 2), ich nenne sie gern die Parade der Baumeister: Richard Lucae (1829-1877), Heino Schmieden (1835-1913), Walter Gropius (1824-1888) und Hugo Licht (1841-1923) haben hier nicht nur gebaut, sondern sie wohnten und arbeiteten auch hier. Und von jedem Haus gibt es Fotos: im Landesarchiv, in anderen Bildsammlungen, von Starfotografen wie S. Albert Schwarz, Waldemar Titzentaler und anderen. Diese Seite wurde am Ende des Zweiten Weltkriegs komplett zerstört.

Bild 1. Blick über den Landwehrkanal und die Herkules-Brücke aus die „Schokoladenseite“ des Lützowplatzes, die Häuser mit den durchlaufenden, geraden wie ungeraden, Hausnummern 1 bis 8 (bis 1930), beginnend mit dem Eckhaus an der Lützowstraße (Postkarte, um 1910, gemeinfrei).

Bild 2. Die „Parade der Baumeister“ am Lützowplatz, dort, wo heute das Hotel Berlin,Berlin seinen Haupteingang hat, mit den alten Hausnummern 9 bis 13 (bis 1930) in Klammern; es fehlt das Haus Nr. 14 an der Ecke zur Schillstraße. (Fotos – Auszüge – verschiedener Provenienz und  Jahre, alle vor 1930, alle gemeinfrei).

Nur die dritte Seite, die findet man nicht im Detail, auch wenn angeschnittene Fotos (Bild 3) klar machen, dass auch diese Seite attraktive Wohn- und Mietshäuser hatte, die mit Sicherheit auch von bekannten Architekten gebaut worden waren – immerhin gibt es von allen Häusern noch die Bauakten im Landesarchiv. Warum ist dann die Daten- bzw. Bild-Situation so schwierig? Ein einfacher Grund mag darin liegen, dass die Adresse dieser Häuserzeile bis 1930 gar nicht Lützowplatz war: dies waren die Adressen Schillstraße 1 bis 6. Die Schillstraße begann am Lützowufer und wurde aufsteigend „preußisch“ nummeriert, d.h. die Hausnummern begannen auf der rechten Seite und führten am Ende auf der linken Seite wieder zurück. Schillstraße 1 war das Eckhaus und hatte gleichzeitig die Adresse Lützowufer 20 (es gab dort eine Eckkneipe, das erste Haus, das wir im Kiez recherchiert hatten – mittendran am 6. Juni 2020). Schillstraße 6 war das Eckhaus zur Wichmannstraße 1, die ebenfalls preußisch nummeriert war. Nr. 28 war das letzte Haus auf der linken Seite, gleichzeitig Schillstraße Nr. 7.

Bild 3. Blick über den Landwehrkanal und die Herkules-Brücke auf die dritte Seite des Lützowplatzes mit den Adressen Schillstraße 1 bis 6 (bis 1930) zwischen Lützowufer und Wichmannstraße; nach 1930 umnummeriert in Lützowplatz 2 bis 12 (Postkarte, Auszug von 1900, gemeinfrei).

Erst mit der Umnummerierung 1930 änderte sich die Straßenbezeichnung und die Nummerierung: Die „Schokoladenseite“ erhielt, ausgehend von der Lützowstraße, die ungeraden Nummern 1 bis 13, die Baumeister-Seite die ungeraden Nummern 15 bis 27, und die dritte Seite die geraden Nummern Lützowplatz 2 bis 18; die Schillstraße behielt ab der Wichmannstraße ihre Nummerierung. Die vierte Seite wurde nie bebaut, da hier der Landwehrkanal verlief (Bild 4).

Bild 4. Stadtplan mit Nummerierung der Häuser am Lützowplatz (vor 1930): die Häuser waren durchgehend nummeriert, angefangen mit der Nr 1 an der Lützowstraße über die Maassenstraße bis zur Schillstraße mit Nr. 14. Die dritte Seite des Platzes hatte die Hausnummern Schillstraße 1 bis 6. Markiert ist Lützowplatz 5 (heute Nr. 9, das Haus am Lützowplatz, HaL (Straube-Plan von 1910, gemeinfrei).

Sucht man nach alten Fotos dieser dritten Seite, muss man also nach „Schillstraße“ suchen, und dann wird man in Grenzen auch fündig: das südliche Eckhaus Schillstraße 7/Wichmannstraße 28 hatte im Erdgeschoss eine Apotheke (Bild 5) und darüber ein Wohnhaus, das 1877 gebaut worden war (2). Und es gibt Postkarten der Schill- und Wichmannstraße in dieser Höhe, die den Eindruck einer großstädtischen Wohn- und Einkaufsstraße vermitteln, ebenso wie Anzeigen und Annoncen in Zeitungen dieser Zeit; die Häuser hatten prominente Bewohner und institutionelle Mieter. Die Lützow-Apotheke befand sich dort von 1886 bis zur Zerstörung des Gebäuden 1943, der letzte rechtmäßige Besitzer war Dr. Curt Lewy, ein jüdischer Apotheker, der 1937 nach Brasilien flüchtete, 1962 zurückkam und 1985 in Konstanz starb. Er hatte noch aus Brasilien ein Wiedergutmachungsverfahren angestrengt (3); dazu demnächst mehr.

Bild 5. Die Lützow-Apotheke an der südlichen Ecke Schillstraße 7/Wichmannstraße 28. (Foto aus dem Landesarchiv Berlin, Fotograf unbekannt, um 1930 , F Rep. 290 (01) Nr. 0268831, gemeinfrei).

Literatur

  1. P.Enck, S.Klosterhalfen: Das Lützow-Viertel. Geschichte und Geschichten aus dem Berliner Lützow-Kiez. Hayit Verlag, Köln 2022.
  2. Landesarchiv Berlin, Bauakte B. Rep. 202 Nr. 4754 und 4755.
  3. Landesarchiv Berlin, Wiedergutmachungsakten B Rep. 025-08 Nr. 610/50 und 611/50.

Paul Enck

Schreibe einen Kommentar