Geschichten von Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel (1): Übersicht

Geschichten von Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel (1): Übersicht

ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com

Mit dieser Einführung beginnt eine neue Serie von Geschichten zu Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel. Einige Firmen im Lützow-Viertel haben wir bereits kennengelernt, z.B. die Firma Rütgers, die in mehreren Straßen ihre Spuren hinterlassen hat (mittendran vom 30. Mai 2021), oder den Verleger De Gruyter und seine verschiedenen Verlagsteile (mittendran vom 13. März 2021). Auch der vorindustriellen Textilfabrikation der Baumwollweber, -färber und -verleger an der Straße „Am Karlsbad“ (mittendran vom 11. November 2020) und der Seidenproduktion des Herrn Heese aus der Dörnbergstraße (mittendran vom 27. September 2021) sind wir schon begegnet. Hier und heute geht es aber zum einen um die sehr frühen Handel- und Gewerbeansiedlungen in der Friedrichsvorstadt; die Menschen hinter diesen Initiativen waren Personen mit zum Teil sehr exklusiven, um nicht zu sagen exotischen Biografien, wie sie vor allem in Zeiten des sozialen und wirtschaftlichen Umbruchs entstehen. Zum anderen wollen wir auch hier einen zeitlichen Bogen schlagen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis fast in die Gegenwart. Die Geschichten werden zeitgleich, aber in einer verkürzten Fassung, im Weblog des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs (1) erscheinen.

Zu den ersten Berliner Unternehmen, die sich jenseits des Landwehrkanals, damals noch auf Schöneberger Grund, ansiedelten, gehörte die Druckerei des Eduard Hänel (1804-1856), dessen Vater bereits in Magdeburg eine königliche Druckerei betrieb. Eduard Hänel aber revolutionierte das Druckereiwesen in Deutschland, indem er in England entstandene Techniken des Druckens weiterentwickelte und einer breiten Verwendung in der Buchdruck-Kunst zuführte; heute gilt er als wegweisend für die Drucktypen-Lehre. Hänel zog im Jahr 1837 an die Potsdamer Chaussee (ab 1841: Potsdamer Straße 118), wo er sowohl seine Druckerei betrieb als auch seine private Villa von dem bekannten „Architekten des Bürgertums“ Eduard Knoblauch (1801-1865) erbauen ließ (Bild 1).

Bild 1: Stadtplan 1856 mit der Druckerei Hänel (großer roter Kreis), der Villa Hänel (kleiner roter Kreis) und der Waggonfabrik Jungbluth (blaues Oval); eines der Gebäude auf dem Gelände ist das Wohnhaus von Jungbluth.

Hänel starb dort 1854, aber seine Witwe lebte noch bis 1861 an der Potsdamer Straße, während die Druckerei von seinem Mitarbeiter Wilhelm Gronau bis 1895 in der Lützowstraße 9 weitergeführt wurde, bevor sie nach Schöneberg umzog.

Etwa zur gleichen Zeit wie Hänel siedelte sich auf der anderen Seite der Potsdamer Straße (Hausnummer 30) der Waggonbau-Betrieb des Heinrich Günther Jungbluth (1809-1882) genannt Einicke an. Heinrich Jungbluth kam ursprünglich aus Buhla (Thüringen), Sohn eines dortigen Gutsbesitzers, der bei seinem Onkel Johann Friedrich Einicke in Berlin, einem Schmied, zunächst das Schmiedehandwerk lernte. Sein Onkel meldete ihn 1826 an der Berliner Tierarzneischule an, er absolvierte das Studium bis 1830, und findet sich danach in den Adressbüchern Berlins als „Schmied und Tierarzt“ mit Praxis in der Dorotheenstadt. Ziehvater Einicke zog 1836 als Rentier mit seiner Frau über den Landwehrkanal in die neue Kolonie, nach dessen Tod (1840) ließ Jungbluth auf dem weitläufigen Gelände hinter dem Elisabeth-Krankenhaus eine Fabrik für Eisenbahnwaggons bauen (Bild 1), die den gerade erst entstehenden Bedarf nach solchen Fahrzeugen zu decken half: 1838 wurde die erste Eisenbahn in Preußen eröffnet, die Berlin-Potsdam-Bahn in unmittelbarer Nähe.

Sie machte Jungbluth zu einem reichen Mann, auch wenn die Fabrik (östlich entlang der heutigen Kluckstraße zwischen Schöneberger Ufer und Lützowstraße) 1862 komplett ausbrannte; danach wurde das Land zu Bauland für Wohngebäude, hier entstand die Straße „Blumeshof“.

Bild 2: Anzeige des Milch- und Gartenrestaurants Bolle am Lützowufer 31 und Notiz in der Voss´schen Zeitung vom 12. Mai 1880 (Abendausgabe).

Waren die ersten Unternehmer vielleicht noch Pioniere, die sich das billige Bauland auf Schöneberger Boden für ihre Geschäfte zunutze machten, so waren ihre Nachfolger unter die Bodenspekulanten gegangen – einer davon war der Maurermeister und spätere Meiereibesitzer Carl Bolle (1832-1909). Carl Bolle investierte zunächst in Wohnhäuser, die er selbst baute und trockenwohnte, bevor er über einen anderen Spekulanten, den vermeintlichen Baron George Killmar (ihn hatten wir  schon kennengelernt, mittendran vom 27. April 2021) 1864 zu einem großen Grundstück am Lützower Ufer 20 (heute: 31) kam. Hier begann die Erfolgsgeschichte von „Bimmel-Bolle“, der innerhalb von wenigen Jahren die Produktion und den Vertrieb von Milch und Milchprodukten in Berlin und weit darüber hinaus revolutionierte. Zehn Jahre später (1887) wurde ihm das Lützow-Viertel zu klein, er zog nach Moabit (dahin, wo heute der „Spreebogen“ ist), wo die Meierei Bolle bis in die Gegenwart fortbestand (Bild 2).

An südlichen Rand des Lützow-Viertels, in einem Wohnhaus in der Blumenthalstraße 18, wurde 1885 eine Firma gegründet, die es innerhalb von kurzer Zeit zum Weltmarktführer brachte, indem sie einen flüssigen Klebstoff mit dem Kunstnamen „Syndetikon“ erfand und patentieren ließ, der in wenigen Jahren und mit geschickter, witzig-moderner Reklame vermarktet (Bild 3), weltweit vertrieben wurde – dem „Uhu“ von heute vergleichbar, aber nicht so gut riechend.

Bild 3: Reklamemarken für den Klebstoff Syndetikon der gleichnamigen Firma des Otto Ring aus der Blumenthalstraße 18 (Quelle: Berlin-Brandenburgisches Wirtschaftsarchiv mit freundlicher Genehmigung).

Die Firma Syndetikon des Otto Ring (1853-1937) verlagerte 1896 die Produktion nach Friedenau, aber der Firmenpatriarch Otto Ring verblieb in der Blumenthalstraße (neben einer Villa in Berlin-Cladow und einem Wohnsitz in Potsdam), und sorgte sich auch lange nach seinem Ausscheiden noch um das Wohlergehen seiner Angestellten durch eine „Stiftung Syndetikon“, die erst 1958 aufgelöst wurde.

Die 1896 für Berlin geplante Weltausstellung – wie ihre Vorgänger, die allererste in London 1851, vor allem aber Paris 1889 und Chicago 1893, eine Leistungsschau der sich entwickelnden Industrie – wurde zu einer rein deutschen Gewerbeschau 1896, weil dem Kaiser die Weltausstellung eine Nummer zu groß (und zu teuer) war. Dieser Gewerbeschau war eine sogenannte Kolonialschau angegliedert, und auf dieser machte erstmals das Kolonialhaus Bruno Antelmann (1857-1926) von sich reden, das wenig später in der Lützowstrasse 89/90 seinen Stammsitz nahm (Bild 4).

Bild 4: Das Kolonialhaus Bruno Antelmann in der Lützowstraße 89/90 (Quelle: Blätter für Architektur und Kunsthandwerk, Band XVIII, 1905, Seite 27 und Tafel 40; gemeinfrei).

Bis zum Ersten Weltkrieg war es der größte Importeur von Kolonialwaren aus aller Welt, vor allem aus den deutschen Kolonien Togo, Kamerun, Deutsch Südwest- und Deutsch Ost-Afrika. Bruno Antelmann verkaufte seine Firma 1911. Die Firma Kolonialhaus Antelmann Nachfahren ging später in jüdische Hände über, zuletzt an die Familie Katz. Die Firma wurde 1937 „arisiert“ und ging in den Besitz von Alfred Adomat (Berlin, Keithstraße) über. 1967 wurde die Firma im Handelsregister gelöscht. (Die Nachkommen der Familie Katz stellten 1949 einen Restitutionsantrag, der noch nicht eingesehen ist.)

Etwa zu der Zeit, als das Milchimperium des Carl Bolle zu Ende ging (1909) und das Kolonialhaus des Bruno Antelmann strauchelte, begann der Aufstieg des Möbelgeschäfts Karl Hübner (1882-1945): Im Jahr 1908 eröffnete der Tischlermeister Karl Hübner in der Steglitzer Straße (heute: Pohlstraße) eine Möbelhandlung, nachdem er zuvor an der Bülowstraße 61 eine Tischlerei betrieben hatte. Die Landwirtsfamilie Hübner kam aus Schwerz (Saalekreis, 15 km nordöstlich von Halle) nach Berlin (Bild 5). Deren Geschäft ging durch Heirat 1935 in die Hände der jetzigen Besitzer über, die Familie Türklitz aus Brandenburg (Havel), die es noch heute betreibt.

Bild 5: Möbel Hübner in der Steglitzer Straße 27 von 1908 bis 1911 (Quelle: Screenshot aus einem YouTube-Video zum Hübner-Schlager von 1936).

In den nächsten Monaten werden wir die Geschichte dieser Unternehmen und Unternehmer etwas ausführlicher beleuchten.

  1. https://www.archivspiegel.de/wirtschaftsgeschichte/handel-und-gewerbe-im-luetzow-viertel-eine-einfuehrung/

 

Redaktion

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