Die Straßen im Kiez: Genthiner Straße

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)

Die heutige Geschichte spielt im nördlichen Teil der Genthiner Straße, und sie beginnt mit einem Skandal, aber nicht im Kiez, sondern auf der Achse Breslau – Berlin. Und vielleicht war es auch weniger als ein Skandal aus heutiger Sicht, aber wir sind im Jahr 1840: Da trat der katholische Weihbischof von Breslau, seit 1835 im Amt, Graf Leopold von Sedlnitzky (1787-1871) von diesem Amt zurück, auf Wunsch und mit Einverständnis (um nicht zu sagen: auf Druck) des Papstes Gregor XVI: weil er es gewagt hatte, sich für die Annäherung der beiden christlichen Konfessionen einzusetzen; obwohl: dem Grunde nach ging es um etwas viel Trivialeres, nämlich die Anerkennung gemischt-konfessioneller Ehen und Änderung des katholischen Dogmas, dass Kinder aus solchen Ehen nur katholisch erzogen werden dürfen – das war der eine Teil des Skandals. Der schwerwiegendere Teil jedoch war vermutlich, dass er anschließend nach Berlin ging, in den Staatsdienst eintrat (er wurde Mitglied des preußischen Staatsrates, einem informellen Beratungsgremium des preußischen Königs), eine Pension erhielt und 1863 zum evangelischen Glauben konvertierte. Da Berlin überwiegend protestantisch war, hat es ihm hier allerdings nicht geschadet, in den überwiegend katholischen preußischen Landesteilen, in der Rheinprovinz und der Provinz Posen (siehe dazu mitteNdran vom 19.12.2020) hätte er es sicher schwerer gehabt.

Bild 1: Die Lage des Paulinums an der Lützowstraße zwischen Genthiner und Magdeburger Straße auf einer Karte von 1882 (Ausschnitt aus: https://digital.zlb.de/viewer/image/15453195/1/)

In Berlin realisierte er für die protestantische Priesterausbildung das, was ihm auch in der katholischen Priesterausbildung in Breslau wichtig war: ein Seminar für angehende Theologiestudenten, angeschlossen an ein Gymnasium. Dazu wurden aus den Mitteln, die Sedlnitzky und andere spendeten, von Bauern in der Gemeinde Schöneberg zwei Grundstücke gekauft, das eine (Bild 1) diente der Errichtung des Pensionats, das andere sollte zur Finanzierungsabsicherung dienen.

„Um die Benennung der Anstalt gab es einige Diskussionen. Beim Entwurf zu einem Statut hatte sie noch keinen Namen, man sprach von der »Erziehungsanstalt im Lützower Felde«, was dann in »Schöneberger Feld« umgeändert wurde … dem Institut einen Namen zu geben … für Paulinum entschieden, nach dem Apostel, der vom Saulus zum Paulus wurde. 1864 wurde die bevorstehende Eröffnung der Anstalt schon mit diesem Namen bekannt gegeben“ (1).

Anfangen hat das Paulinum 1864 mit 30 Schülern und einem jährlichen Etat von 18.000 Mark. 1873/4 (Sedlnitzky war 1871 verstorben) wurde es bereits baulich erweitert, und 1895 wurde die Anzahl der aufgenommenen Zöglinge auf 40 bis 50 erhöht. Da lag das Paulinum schon lange nicht mehr am Stadtrand, sondern mitteNdran. Beim Kauf „herrschte hier noch ländliche Idylle. Inzwischen hatte das Terrain des Paulinums gewaltig an Wert gewonnen, und auch die Abgeschiedenheit, in der es eigentlich liegen sollte, war nicht mehr gegeben. … 1907 endlich verkaufte man das Grundstück … für 910 000 Mark mit der Maßgabe, dass die Übergabe und Auflassung des Grundstückes erst 1909 erfolgen sollte …  Von der Königlichen Kommission für die Aufteilung der Domäne Dahlem wurde am 26. Mai 1907 das noch heute im Besitz des Diakonischen Werkes befindliche Grundstück für 146 000 Mark erworben. Durch den Verkauf des alten und den günstigen Kauf des neuen Grundstücks erhöhte sich das Kapital der Paulinum-Stiftung um fast 350 000 Mark“ (1), und das Paulinum zog um nach Dahlem. Der Central-Ausschuß für Innere Mission der deutschen evangelische Kirche war 1910 noch im Adressbuch als Eigentümer des Grundstücks eingetragen, ab 1911 war es dann unter anderem der Walter de Gruyter Verlag.

Mit Kohle Kohle machen – Tautologie („doppelt gemoppelt“) oder Oxymoron („schwarzer Schimmel“)?

Als das Gelände, auf dem das Paulinum stand, geräumt war (1909), platzte Berlin schon aus allen Nähten, und traditionelle Firmen, die bislang in der Stadt residiert hatte, konnten nur an der Peripherie expandieren; dazu gehörte die Verlagsgruppe De Gruyter.

Bild 2: Das Mühlengehöft des Müllers Bobbe in der heutigen Genthiner Straße, ca. 1860 (aus: Petra Zwaka. Schöneberg auf dem Weg nach Berlin. Hrg. Bezirksamt Schöneberg von Berlin. Eigendruck, Berlin 1998, S.42)

„De Gruyter verlegt seit 270 Jahren erstklassige wissenschaftliche Werke“, heißt es auf der Webseite des Verlages – hui, denkt man, aber sicherlich nicht in der Genthiner Straße, da sah es selbst vor 170 Jahre noch ganz anders aus (Bild 2). Viel zur Verlagsgeschichte gibt De Gruyter allerdings nicht preis auf seiner Webseite, und nur in Englisch („De Gruyter in a nutshell“), aber wenn man sich dann einschlägige Quellen besorgt (2,3), findet man, dass es nicht der De Gruyter Verlag war, der 1749 mit dem Buchverlegen begann, sondern der Buchhändler Reimer – und als Walter De Gruyter 1894 nach Berlin kam und bei Reimer einstieg, gab´s Reimer schon 150 Jahre – aber natürlich nicht in der Genthiner Straße; um 1900 residierte die Firma in der Anhalterstraße 12 in der Friedrichstadt.

Bild 3: Walter de Gruyter nach dem Studium (aus: G.Lüdke. Walter de Gruyter. Ein Lebensbild. Berlin, Leipzig, Walter de Gruyter Verlag 1929, Seite 14)

1749 war an der königlichen Realschule des Johann Julius Hecker (die erste in Berlin, von der wir an anderer Stelle noch hören werden), ein Jahr zuvor gegründet, eine Buchhandlung eröffnet worden (4). Die übernahm Georg Andreas Reimer (1776-1842), Sohn eines Greifswalder Kaufmanns, der in Berlin bei einem Buchhändler in die Lehre gegangen war, im Jahr 1801 in Erbpacht (für 500 Reichstaler pro Jahr), benannte sie 1817 um, und kaufte sie 1823 für 4000 Thaler aus dem Pachtvertrag. Reimer, der in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft hatte und an den Barrikadenkämpfen der 1848er teilgenommen hatte, wie viele andere Personen des „geistigen Deutschlands“, wurde ein überaus erfolgreicher Verleger, das Verlagsprogramm seiner Autoren liest sich wie ein „Who is Who“ in deutscher Literatur: Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim, Adolph Diesterweg, Johann Gottlieb Fichte, Jakob und Wilhelm Grimm, E.T.A. Hoffman, Wilhelm von Humboldt,  Friedrich Ludwig Jahn, Heinrich von Kleist, Novalis, Jean Paul, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Ludwig Tieck (4) und andere. Reimer verlegte aber nicht nur Literatur, sondern hatte einen internationalen Namen in der Archäologie, der Mathematik, der Medizin („Virchows Archiv für pathologische Anatomie“) und auf weiteren Gebieten. Sein Sohn Georg Ernst Reimer (1804-1895) führte die Geschäfte weiter, und nach ihm dessen Sohn Ernst Heinrich Reimer (1833-1897) – und der erst verkaufte 1897 an Walter de Gruyter, weil sein eigener Sohn kein Interesse am Verlagsgeschäft hatte.

Die Firmenlegende des De Gruyter-Verlags erzählt heute wenig über Walter de Gruyter (1862-1923): promovierter Philologe, der in Berlin, Bonn und Leipzig studiert hatte, und mit dem Geld des väterlichen Erbes in die Firma Reimer einstieg, nachdem er dort ein halbes Jahr voluntiert hatte, auf eigenen Wunsch ohne Gehalt und mit der erklärten Absicht zu investieren. Auch der Biograph nach seinem Tod (5) fasste Jugend, Ausbildung und Studienzeit auf nur drei Seiten eher nichtssagend zusammen (Bild 3), und Wikipedia weiß wenig mehr: Sohn des Kohlegroßhändlers Albert de Gruyter (1829–1901).

Ancestry, die Webseite der Ahnenforscher, nennt als Herkunftsort Ruhrort (heute ein Stadtteil von Duisburg), und die Adressbücher von Ruhrort weisen den Vater nicht nur als Kohlenhändler, sondern als Direktor einer Kohlenzeche aus. Die Nähe zu den Niederlanden ließ es schon vermuten: der Name verweist auf holländischen Hintergrund, Walter de Gruyters Großvater, Martin Ferdinand De Gruyter, war 1804 in Venlo geboren worden, hatte dort eine Kaufmannslehre gemacht und geheiratet (1825, mit 21 Jahren: Diederike Marie van den Linden, geb. 1801). Das historische Archiv der Provinz Limburg kennt auch noch die Urgroßeltern von Walter de Gruyter, den Kaufmann Jan Jacob de Gruijter und Maria, geb. van den Hoeven, aber dabei wollen wir es bewenden lassen, tiefer in die Genealogie der Familie De Gruyter wollen wir hier nicht einsteigen, sonst kommt am Ende noch ein Käsehändler raus, immerhin gibt es eine Lebensmittel-Kette dieses Namens in den Niederlanden.

Der Großvater war Schiffsmakler, makelte (vermittelte) also vermutlich Kohlentransporte per Schiff aus dem Ruhrgebiet nach Holland. Das war und ist zu allen Zeiten ein gutes und erträgliches Geschäft gewesen, davon hat das Ruhrgebiet profitiert, und Preußen, als es sich das „Königreich Westfalen“ nach der Vertreibung Napoleons 1815, dessen Bruder Jerome der König von Westfalen war (aber kein westfälischer König), zurückholte. Kohle wurde nach 1850 nicht nur zum Heizen gebraucht, wie wir noch sehen werden.

Unklar ist, wann die Familie nach Ruhrort zog, aber es gab viele holländische Protestanten, die es ins protestantische Preußen zog; Ruhrort war eine protestantische Insel im vorherrschend katholischen Rheinland, 1551 trat die Gemeinde geschlossen zum protestantischen Glauben über, und seit 1701 gehörte Ruhrort zu Preußen. Beide Söhne von Albert de Gruyter und seiner Frau Emma Eugenie, geb. Müller (1889-1950) erhielten eine akademische Ausbildung: Walter studierte Philologie, sein 4 Jahre jüngerer Bruder Paul (1866-1939) studierte Chemie. Vermutlich wollten beide nicht das väterliche Geschäft übernehmen, haben es deswegen 1893 versilbert (Kohle zu Kohle gemacht!) und sind, wie viele aus den preußischen Randprovinzen, vor und nach der Reichsgründung 1871 in die Hauptstadt gezogen, mitsamt dem Vater (die Mutter war in Ruhrort verstorben). Im Adressbuch von Berlin ist Walter de Gruyters ab 1897 nachweisbar, wohnhaft zunächst in der Brückenallee 9 in Nordwesten der Stadt (heute: Alt-Moabit), ab 1900 als Eigentümer eines neu gebauten Wohnhauses in der Wilhelmstraße 19 in Berlin-Lichterfelde, sein Bruder Paul („Fabrikbesitzer“) in Charlottenburg, sein Vater („Industrieller“) am Kudamm (und im Sommer im Grunewald) – die Kohle war offenbar gut angelegt worden.

Bild 4: Bürohaus Genthiner Straße 38 (aus: G.Lüdke. Walter de Gruyter. Ein Lebensbild. Berlin, Leipzig, Walter de Gruyter Verlag 1929, S.54)

Und dann begann erst die Karriere des Walter de Gruyter: Mit Wirkung vom 1. Januar 1897 übernahm er für 506.872,65 Reichsmark den Reimer-Verlag, behielt aber dessen enge Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften und dem Deutschen Archäologischen Institut. In der Folge schloss sich der De Gruyter Verlag mit anderen Verlagen zusammen (Verlagsbuchhandlung Guttentag; Spemann Verlag; Trübner Verlag; Göschen´sche Verlagshandlung), die 1918 zur Verlagsgruppe Walter de Gruyter zusammengefasst wurden. Mission completed, der Rest ist Geschichte – und gut dokumentiert, auch nach Walter de Gruyters Tod 1923 (2-4).

De Gruyter und Reimer und die anderen Verlage fanden ab 1912 in der Genthinerstraße 38 – auf dem Grundstück, das einigen Jahre zuvor noch dem Paulinum gehörte – eine gemeinsame Heimat (Bild 4); in den Jahren davor (1900-1911) hatten sie Residenz in der Lützowstraße 107-108 genommen, kurz vor dem östlichen Ende der Straße. Nebenan (Ecke Lützowstraße – Genthiner Straße) hatte die Firma Rütgers ebenfalls ein Bürohaus errichtet, auch auf dem Gelände des ehemaligen Paulinums (heute gehört dies auch der Verlagsgruppe De Gruyter und wird von ihr genutzt), und sonderbarer Weise hat auch die Firma Rütgers mit Kohle angefangen und daraus ein Imperium geschaffen, allerdings eines ganz anderer Art – davon demnächst mehr.

 

Literatur

  1. H.-P.Doege. Knabenerziehung im christlichen Geiste. Berlinische Monatsschrift 2001 (Heft 7), S. 161-163
  2. D.Fouquet-Plümacher, M.Wolter. Aus dem Archiv des Verlages Walter de Gruyter. Berlin-New York, Walter de Gruyter Verlag 1980.
  3. A.Königseder. Walter de Gruyter. Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2016.
  4. F.Johannesson. Georg Andreas Reimer. Ein Beitrag zur Geschichte des Berliner Buchhandels. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins Jahrgang 46 (1929), Seite 121-134
  5. G.Lüdke. Walter de Gruyter. Ein Lebensbild. Berlin, Leipzig, Walter de Gruyter Verlag 1929

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