Überlebende der Blockade von Leningrad berichten

Sie leben in unserer Nachbarschaft: Letzte Überlebende der Blockade von Leningrad

Lange wurde in der Bundesrepublik Deutschland behauptet, die deutsche Wehrmacht sei nicht wissentlich an den nationalsozialistischen Kriegsverbrechen in Europa beteiligt gewesen. So wurde denn auch die Belagerung von Leningrad als eher kriegstaktisches – nicht ungewöhnliches – Geschehen heruntergespielt. In Wirklichkeit war diese ein schweres Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung.

Vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 belagerte die Heeresgruppe Nord der nationalsozialistischen Wehrmacht die Stadt. Nach 28 Monaten (2 Jahren und 4 Monaten) hatten über 1,1 Millionen Zivilisten das Leben verloren, 90% von ihnen waren verhungert.

Im Rahmen der Initiative Jüdisches Leben und Widerstand in Tiergarten berichteten im Januar Zeitzeug*innen von ihren grausamen Erinnerungen ihrer Kindheit.

Die Zeitzeug*innen der Podiumsdiskussion in der Villa Lützow; von rechts nach links: Dr. L. Berezin, Christine Leithold (Übersetzung), Dorothea Palej, Dr. Ntalja Jahn (Foto:ase)

Dr. Leonid Berezin, der aus einer großen jüdischen Familie stammt, war zwölf Jahre alt, als der Krieg begann. Auf dem Weg in die „Kinderfreizeit“ (Evakuierung) wurde der Zug von deutschen Tieffliegern angegriffen, viele der Kinder starben oder wurden schwer verletzt. Kaum zu ertragen für einen Zwölfjährigen – und dann noch das schadenfrohe Lächeln des angreifenden Piloten. Die kleine Gruppe der Überlebenden machte sich zu Fuß auf den Weg zurück nach Leningrad. „Wir liefen meistens im Dunkeln. Am dritten Tag waren wir entkräftet. Die Kleinen weinten ständig und wir konnten sie kaum noch tragen.“ Nur einem mitleidigen Lastwagenfahrer war es zu verdanken, dass sie noch in die Stadt zurückkamen (einige tausend Leningrader Kinder fielen in die Hände der deutschen Wehrmacht…). Den Vater, den er noch einmal verletzt gesehen hatte und der zur Verteidigung Leningrads kämpfte, sollte er nie wieder sehen. „Die Erinnerungen und das Durchleben der Geschehnisse dieser Jahre ist zu schwer“ sagt Leonid Berezin und doch will er weiterhin Zeugnis ablegen, weil es besonders für die heranwachsende Generation sehr wichtig ist.

Dora Palej war fünf Jahre, als die Blockade begann – acht als sie endete. Der immerwährende Hunger, die aggressiven Ratten und die ständige Eile begleiten sie ihr ganzes Leben. Aber „Ich lebte mit meiner Mutter, die mir beibrachte, nicht mich, sondern andere, denen es zu dem Zeitpunkt noch schlechter ging, zu bemitleiden“ sagt die heute 86Jährige. Bereits die Fünfjährigen mussten viel Verantwortung übernehmen. Zum Beispiel bei der täglichen Versorgung mit Wasser. Noch in der Nacht schlugen Erwachsene Löcher in das Eis des Lagoda-Sees. Die Kinder mussten dann mit Eimern das Wasser für ihre Familien holen. Lange Schlangen bildeten sich und wenn ein Kind das Wasser verschüttete – was ja immer mal vorkam – musste es sich wieder hintenanstellen und die Familie musste lange auf das wenige Wasser warten. „Nach den nächtlichen Bombardements, nach nächtlichen Kämpfen mit Ratten, die versuchten geschwächten Mitmenschen die Zehen abzunagen, war es schwer aufzustehen und es war hart , in der Kälte für eine Brotration anzustehen“, aber Dora Palej durchlebte die Leningrader Hungerblokade bis zum Ende und „empfindet ihre Kriegskindheit nicht als verloren, obwohl man so etwas nicht einmal seinem Feind wünscht.“

Der 1934 geborenen Ärztin Dr. Natalja Jahn bleiben aus den 872 Tagen der Blockade unter anderen die Erinnerungen an die vielen Toten in der Nachbarschaft. „Fliegeralarm gab es den ganzen Tag, von morgens bis abends. In den Luftschutzkeller gingen wir aber nicht. Meine Mutter hatte Angst, dass wir verschüttet würden und dort erstickten“. Vor ihrem Fenster lag während des ganzen kalten Winters eine Leiche, weil keiner mehr die Kraft hatte, sie zu beerdigen. „Es gab kein Wasser, kein Licht und keine Heizung. Wenn man am Tage auf die Straße ging war es zur Gewohnheit geworden, Schlitten mit Leichen zu sehen, die von abgemagerten, halb toten Menschen irgendwohin gezogen wurden“. Überleben konnte sie nur, weil sie und ihre Schwester sich aus Krümelresten aus den Säcken mit Roggenkräckern zur Versorgung der Marinesoldaten ein Essen bereiteten. Die Krümel wurden auf eine Untertasse geschüttet, mit heißem Wasser übergossen und sehr langsam mit einem kleinen Löffel verspeist. „Das war soo lecker!!“

Leonid Berezin, der Vorsitzender der Berliner Vereinigung „Lebendige Erinnerung“ ist, sagt:

„Wir dürfen nicht vergessen“

und

„Wer wir auch sind und wo wir auch leben: Wir brauchen nur Frieden auf der ganzen Welt und keinen Krieg“

 

Mehr zum Thema finden Sie unter https://www.club-dialog.de/lebendige-erinnerung/

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