Geschichten von Handel und Gewerbe im Lützow-Viertel: Die Meierei Bolle

Waren die ersten Unternehmer im Lützow-Viertel noch Pioniere, die sich das billige Bauland und die niedrigen Grundsteuern auf Schöneberger Boden für ihre Geschäfte zunutze machten, so waren ihre Nachfolger unter die Bodenspekulanten gegangen – einer davon war der Maurermeister und spätere Molkereibesitzer Carl Bolle (1832-1909) (Bild 1). Sie alle profitierten von der Übernahme des Schöneberger Nordens durch die Stadt Berlin im Rahmen des Hobrecht-Plans von 1862 (1).

Bild 1: Porträt von Carl Bolle um 1910 (Fotograf unbekannt, aus (6)).

Noch vor 50 Jahren kannte in Berlin nahezu jeder die Lebensmittelkette „Bolle“, auch wenn nicht alle mehr gewusst haben mögen, dass sie 1917 aus einer Molkerei (Meierei) hervorgegangen war, die ihre Anfänge fast 50 Jahre zuvor hatte, als „Bimmel Bolle“ ganz Berlin mit Milch versorgte – im wahrsten Wortsinn. Wir wollen hier nicht sein ganzes Leben aufarbeiten, wir werden uns auf die ersten etwa 25 Jahre (ab 1863) beschränken , die Bolle am Lützowufer zubrachte, bevor er 1887 nach Moabit in den „Spreebogen“ zog (2), wo dann die große Meierei entstand (Bild 2). Die Anfänge waren eher bescheiden und sind auch im Bolle-Firmenarchiv in der Stiftung Technik-Museum am Schöneberger Ufer nur unzureichend dokumentiert.

Bild 2. Grafik (Stich) der Meierei Bolle in Moabit (Spreebogen) (Quelle: Führer durch die Meierei C. Bolle, Berlin N.W; Alt-Moabit 99-105, Berlin (Eigendruck) o.J. (1892), S. 4)

Dabei zeigte sich, dass bereits zu Beginn der Aktivitäten Bolles im Lützow-Viertel (ab 1863) er einige engere Verbindungen zu Personen hatte, die bereits an anderer Stelle unserer Kiezgeschichte aufgetaucht sind, z.B. der vermeintliche Baron George Killmar (1808-1886) und dessen Schwager, der Direktor der Königstädtischen Realschule und Professor an der Bauakademie, Franz Wenzlaff (1810-1888) (s. mittendran vom 5. Mai 2021), der ihm Geld geliehen hatte, der Maler Anton von Werner (1843-1915) (mittendran vom 4. Januar 2022), der sein Mieter war, aber auch Georg von Bunsen (1824-1896), der spätere Besitzer der neogotischen Villa in der Maienstraße (mittendran vom 8. Juni 2021), die von Maurermeister Bolle gebaut wurde, nachdem von Bunsen einer seiner Mieter in der Matthäi-Kirchstraße 14 war (1866).

Die verschwundene Autobiographie

Über Carl Bolle und sein Milchimperium gibt es wirtschaftswissenschaftliche (3) wie populärwissenschaftliche Publikationen (4), und viele Geschichten und Anekdoten (5). Leider sind seine eigenen autobiografischen Aufzeichnungen verloren gegangen; der vermutlich letzte, der sie gesichtet hat, ist der Wirtschaftshistoriker Eberhard Schmieder (1908-1993), der an der TU Berlin Wirtschaftsgeschichte unterrichtet hat – seine Darstellung der Firmengeschichte von 1960 (3) basiert im Wesentlichen auf der Auswertung von Bolles Aufzeichnungen von 1905. Aber Herr Schmieder muss die Autobiographie mit ins Grab genommen haben: Er starb vermutlich 1993 und bislang konnte ein Nachlass nicht gefunden werden.

Leider lässt sich daher Schmieders Rekapitulation der Geschichte des Carl Bolle nicht auf Vollständigkeit überprüfen, da uns Bolles Autobiographie nicht vorliegt, aber in einigen der Aspekte können wir Schmieder hier ergänzen. Dazu haben wir Akten im Landesarchiv eingesehen, u.a. die Bauakte Lützowufer 31 ab 1863, die Akten zur Inbetriebnahme von Dampfschiffen 1885, Akten zur Einrichtung von Milchhäuschen im Tiergarten (1881) und die Akte anlässlich der Ernennung zum Kommerzienrat 1897 u.a.m.

Herkunft, Ausbildung und Unternehmertum

Die ländliche Herkunft (Milower Land östlich von Brandenburg-Havel) und die Ausbildung des Carl Bolle als Maurer ist in hinreichenden Details bei Schmieder (3) und in dem lesenswerten Buch von Frank Pauli beschrieben (4) und kann auch in Wikipedia nachgelesen werden (5). Die oben erwähnte Orientierungslosigkeit zeigt sich an dem Umstand, dass Bolle zunächst Pfarrer werden wollte, den Versuch, das Abitur zu machen, schnell abbrach, eine Maurerlehre machte, auf Wanderschaft ging, zurück kam wegen Gesundheitsproblemen, erneut einen Versuch zur Hochschulreife startete und mit „psychischen Problemen“ wieder ausstieg, die Maurerlehre in Rathenow machte, als Geselle auf Wanderschaft ging, zurück kam wegen Gesundheitsproblemen, erneut einen Versuch zur Hochschulreife startete und mit „psychischen Problemen“ wieder ausstieg, die Maurerlehre mit der Meisterprüfung in Eberswalde beendete, und als Maurermeister nach Plaue (nahe Brandenburg) und schließlich wieder nach Berlin ging. Im Jahre 1860 (im Alter von 28 Jahren) begann Carl Bolle seine unternehmerische Laufbahn: Zunächst baute er mit privat geborgtem Geld Häuser, die er mit Gewinn verkaufte, um mit dem Gewinn weitere Häuser zu bauen – so wurde er zum Spekulanten. Bolle „überlebte“ den Zusammenbruch der Gewerbebank, die ihn mit Hypotheken für die Bauspekulation versorgten, indem er seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den Käufern dieser Immobilien treulich über viele Jahre erfüllte. Das „Besorgen von Geld“ allein mag schon ein Grund gewesen sein für die vielfältigen Unternehmensgründungen in sehr diversen Bereichen, die er nebenher ins Leben rief: Lagerhaus für städtische Lebensmittel, Eiskeller zur Versorgung der Stadt mit Kühlmittel, Seefisch-Import und Vertrieb, und schließlich der Aufbau einer Milchwirtschaft. In all der Zeit war vermutlich die einzige Konstante in seinem Leben seine christliche Gesinnung, die sich vor allem durch eine überdurchschnittliche soziale Fürsorge für die für ihn arbeitenden Mitarbeiter und deren Angehörigen auszeichnete (4). Auch seine erste Ehe basierte auf dieser religiösen Tradition, wie auch die Führung einer Familienbibel (Bild 3)

Bild 3: Seite der Familienbibel (Quelle: (6), Nr. 376).

Genealogie

Am 16. September 1860 heiratete Carl Bolle Sophie Emilie Louise Maltner aus Berlin, die zwei Jahr jünger war als er und die einem christlich-spirituellen Glauben anhing. Er macht in Plaue nahe Brandenburg die Maurer-Meisterprüfung und zog wieder nach Berlin – erstmals im Adressbuch von Berlin finden wir ihn im Jahr 1862, aber die Familie war schon vorher in der Stadt: Am 10. Juli 1861 kamen die Zwillinge Johannes Carl und Otto Andreas zur Welt und wurden in der St. Lukas-Kirche (Bernburger Straße) getauft, die Bolles bewohnten seit dem 1. Oktober 1861 sein erstes Haus in der Militärstraße 7. Ein gutes Jahr später, am 7. Januar 1863 – die Familie wohnte jetzt in der Halleschestraße 7, im zweiten von Bolle gebauten Haus – kamen erneut Zwillinge auf die Welt: Martha Friederike und Wilhelmine Sophia. Dann zog Bolle mitsamt seiner Familie an das Lützowufer 20, wo er 25 Jahre blieb. Hier kamen die Kinder Sophie Charlotte (am 9. Januar 1868), Elisabeth Maria (am 16. August 1869) und Karl (am 15. Mai 1872) zur Welt. Den weiteren Lebensweg der Kinder kann man in diversen Quellen verfolgen: der Familienbibel des Johannes Carl Bolle im Firmenarchiv (6), einer Vielzahl von Zeitungsberichten über die Meierei, vor allem die Berliner Börsen-Zeitung bis etwa 1914, und einer Familiengeschichte der Nachkommen von Johannes Bolle, die nach Amerika ausgewandert sind (7). Seine Frau Sophie Bolle geborene Maltner starb am 5. März 1895; Bolle heiratete drei Jahre später, am 10. November 1898, in Stettin die aus Marienwerder stammende Louise Wilhelmine Elisabeth Georgé (1850-1936).

Bolle zieht an das Lützowufer

Schmieder zitiert Bolle, wenn er berichtet, dass „Bolle auch in Geschäftsbeziehungen zu einem Baron (trat), dem als Bauinspektor im Handelsministerium bekanntgeworden war, daß der alte Schafgraben zum Landwehrkanal ausgebaut werden sollte, und der in der Nähe des Zoo Ackerland aufgekauft hatte. Bolle sollte nun einzelne Grundstücke dieses Spekulanten verkaufen; allerdings wurde er dabei um die zugesagte Provision von 10 % des Grundstückswertes so gut wie vollständig betrogen“ (3). Ob hier wirklich Betrug vorlag, sei dahingestellt, George Killmar hatte das Grundstück „Park Birkwäldchen“ (also keineswegs Ackerland) bereits 1839 erworben und es demnach mehr als 30 Jahre gehalten und genutzt, bevor er es auf dem Markt versilberte. Es ist wahrscheinlich, dass ihm der Komplettverkauf an den Actien-Bauverein Thiergarten (ABVTG) 1872 lukrativer erschien als ein parzellenweiser Verkauf an einzelne Interessenten.

Zu den Verlierern kann man Bolle allerdings nicht wirklich zählen, umfasste doch sein Anteil am Killmarschen Besitz mit zunächst 1000 qm (77 Quadratruten, QR), fünf Jahre später mit etwa 4000 qm nahezu 6 % der Gesamtimmobilie (Bild 4): Auch heute noch wirkt das Stück Land, das Bolle zwischen 1862 und 1867 erwarb, groß und reichte vom Lützowufer bis zur Wichmannstraße, zwischen Keithstraße und Landgrafenstraße. Schmieder schreibt: „Selbstverständlich bebaute er das Gelände. Nur lag das Haus, in das auch er selbst einzog und das er dann 25 Jahre lang bewohnte, damals noch so frei im Felde, daß es ihm schwerfiel, in der abgelegenen Gegend Mieter zu finden. Er mußte eine Equipage anschaffen, die die Mieter morgens gegen neun Uhr zum Potsdamer Platz fuhr und abends gegen neun Uhr wieder zurückbrachte. In die Dachräume durfte unter Bürgschaft eines Tischlermeisters ein Kunstmaler ziehen, der später berühmte Anton von Werner“ (3).

Bild 4. Grundstück des Carl Bolle, Lützowufer 31 auf die Gelände des George Killmar („Park Birkwäldchen) bei Kauf 1862 (links) und 5 Jahre später (1872) (Quelle: (8)).

Ausweislich der Bauakte (8) erwarb Bolle das Grundstück im Jahr 1862 und beantragte im gleichen Jahr, darauf ein Wohnhaus mit Vorder- und Seitenflügel zu bauen; der Bauerlaubnisschein wurde am 12. April 1862 ausgestellt. In der Folge beantragte er die Anlage einer Rinnstein-Brücke (1862), einer Wasserableitung in den Landwehrkanal (über die ein Vertrag mit der Gemeinde geschlossen wurde, 1863), den Bau eines Eiskellers (1867) zur Lagerung von Eis aus dem Landwehrkanal, die Erneuerung eines abgebrannten Dach-Stockwerks des Wohnhauses, den Bau eines Speichers am Kanal (1870) an der Anlegestelle von Schiffen zur Entladung (s. unten) und den Bau einer 2 x 2 m Milchhalle auf der Veranda des Vorgartens (1879) (Bild 5): Hier wurde für sonntägliche Spaziergänger in den nahegelegenen Zoo ein Milchausschank („Milchgarten“) eingerichtet, der anfänglich als Kinder-Bar verspottet wurde, aber bald so viel Anklang bekam, dass weitere Milchausschänke eingerichtet wurden (9).

 

Bild 5: Antrag auf Bau einer Milchhalle auf dem Grundstück Lützowufer 31 (links) und Anzeige der Milchhalle. Quellen: Scan aus der Bauakte (8) und (2).

Die Molkerei/Meierei am Lützowufer

Der Milchausschank war anfänglich gedacht für die Verwertung der Milch der 30 Kühe, die auf der Freifläche hinter dem Wohnhaus weideten. Aber schon nach kurzer Zeit muss klar geworden sein, dass einerseits mehr Milch anfiel, als an Sonntagsspaziergänger zu verkaufen war, dass aber andererseits der Verkauf an den Milchhäuschen saisonal stark schwankte und daher keinen beständigen Umsatz erlaubte. Auf der Suche nach einem Verkaufskonzept, so berichtet Schmieder, besichtigte Bolle auch eine Molkerei in Magdeburg, um das dortige Vertriebskonzept des Direktverkaufs durch die Molkerei „auf der Straße“ zu studieren – und das wurde dann zur Vorlage des „Bolle-Systems“ in Berlin.

Am 28. Februar 1881 verließen … die ersten drei mit Pferden bespannten Milchwagen mit 1500 l Milch morgens gegen ½ 6 Uhr den Hof Lützowufer 3. … Seinen Grundsätzen gemäß arbeitete er daher wieder auf eigene Rechnung, auf eigenes Risiko. Daß er sich seiner Sache nicht völlig sicher war, geht aus dem hervor, was er an dem Morgen, an dem die »Provincial-Meierei Carl Bolle« zu arbeiten begann, zu seinen Söhnen gesagt haben soll: »Jungens, paßt auf, daraus wird nichts – oder es wird ein riesengroßes Geschäft. In drei Stunden wissen wir es.«  Als die drei Wagen, nachdem alles verkauft worden war, gegen 11 Uhr zurückkehrten, bestellte Carl Bolle sofort zwanzig neue Wagen. Seine Vertriebsform, das »Bolle-System«, versprach steigenden Erfolg, …“ (3).

Er übernahm 1884 die Ausrüstung einer Molkerei und installierte sie am Lützowufer. Auch wenn dies der Beginn der eigentlichen Karriere von Carl Bolle war, es brachte ihm nicht nur Freunde ein: Nachbarliche Klagen über Lärmbelästigung führten zu polizeilichen Ermittlungen, die Bolle mit detaillierten technischen Veränderungen seiner Anlage parierte (10), so dass die Beschwerden zurückgewiesen wurden.

Angesichts des steigenden Umsatzes gab Bolle die Selbstgewinnung der Milch auf und bezog sie ab 1881 nun auf Grund von Verträgen mit anderen Produzenten (Bauern, Rittergütern) – woraus sich ein neues Problem ergab: die zeitgerechte Anlieferung der Milch. Diese wurde zunächst über die Eisenbahn organisiert, aber die sich ergebenden Schwierigkeiten (die Güterabfertigung z.B. des Lehrter Bahnhofs wurde des nachts geschlossen) führten Bolle zu der Überlegung, den Landwehrkanal vor seiner Haustür dafür zu nutzen. Bolle beantragte 1885 die Nutzung des Landwehrkanals für den Transport der Milch per Dampfschiff aus Brandenburg (Havel) bzw. Oranienburg (10), aber auch dies erwies sich als so unzuverlässig (zu viele Schleusenanlagen, die den Transport verzögerten, hohe Schleusennutzungskosten), dass der Plan wieder aufgegeben wurde (Bild 6). Nicht zuletzt als Konsequenz aus dem erhöhten Umsatz einerseits, der Problematik des Anlieferns und Lagerns andererseits, zog Bolle schließlich 1886 auf das Gelände in Alt-Moabit am heutigen „Spreebogen“ und verlegte die Molkerei ab März 1887 dorthin (siehe Bild 2) – der Rest ist Geschichte (2-4).

Bild 6: Artikel aus der Vossischen Zeitung vom 19. August 1885 (Quelle: (10)).

Literatur

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Hobrecht-Plan
  2. Helmut Engel, Volker Koop: Der Spreebogen. Carl Bolle und sein Vermächtnis. Brandenburgisches Verlagshaus, Berlin 1995.
  3. Eberhard Schmieder: Carl Bolle. Tradition. Zeitschrift für Firmengeschichte und Unternehmerbiographie, 5. Jahrgang (1960), Heft 2, Seite 49-64.
  4. Frank Pauli: Bimmel-Bolle. Ein christlicher Unternehmer in Berlin 1832-1910. Berlin, Wichern-Verlag 2000.
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Bolle_(Unternehmer)
  6. Akte im Technikmuseum Schöneberger Ufer: Firmenarchiv Bolle, I.2.FA 005 C.Bolle, Nr. 333, 360, 376, 499, 518, 572, 578, 644,
  7. Lisa Farrington Parker: Angels in the darkness. A family´s triumph over Hitler and World War II Berlin: 1935-1949. Success Publishing, Scottsdale, Arizona 2011.
  8. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB), B Rep. 202 Nr. 5078: Lützowufer 31.
  9. Akte im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), PR. BR. Rep. 7, Amt Berlin-Mühlenhof, Nr. 1782 (Mikrofilm).
  10. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB), A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 16846

Paul Enck

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