Die Straßen im Kiez: Magdeburger Platz

(ein Beitrag von Prof.Dr.Paul Enck)

Damals wie vermutlich auch heute: Die Einrichtung einer Markthalle in einem Wohngebiet spaltet die Nachbarschaft in Unterstützer und Gegner. „Der Magdeburger Platz wurde im Jahre 1872 angelegt und empfing im Jahre 1873 seinen Namen wegen der an ihm liegenden Magdeburger Straße“ (1), und er hat seinen Namen behalten und wurde nicht umbenannt wie die Straße, der er den Namen verdankt – aber das ist auch schon alles, was geblieben ist von „damals“. Sucht man nach Quellen, die mit der Geschichte dieses Platzes zu tun haben, stößt man zwangsläufig auf Walter Benjamin (1892-1942), den großen Literaten, der zwar in Charlottenburg aufwuchs, aber hier Verwandtschaft hatte, an die er sich erinnerte, als er um 1930 im Pariser Exil die „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ (2) schrieb. Da tauchen die Steglitzerstraße, die Genthinerstraße, der Blumeshof, das Lützowufer, die Bendlerbrücke und eben auch die Markthalle auf:

Bild 1: Postkarte vom Magdeburger Platz vor 1909 (Poststempel der Karte), aber nach der Elektrifizierung der Straßenbahn (abgeschlossen für Berlin 1902). Die Markthalle ist andeutungsweise am linken Bildrand zu sehen.

„Vor allem denke man nicht, daß es Markt-Halle hieß. Nein, man sprach »Mark-Thalle«, und wie diese beiden Wörter in der Gewohnheit des Sprechens verschliffen waren, daß keines seinen ursprünglichen Sinn beibehielt, so waren in der Gewohnheit meines Gangs durch diese Halle verschliffen alle Bilder, welche sie gewährte, so daß ihrer keines sich dem ursprünglichen Begriff von Einkauf oder Verkauf darbot. Hatte man den Vorraum mit den schweren, in kräftigen Spiralen schwingenden Türen hinter sich gelassen, heftete sich der erste Blick auf Fliesen, die von Fischwasser oder Spülwasser schlüpfrig waren und auf denen man leicht auf Karotten ausgleiten konnte oder auf Lattichblättern. Hinter Drahtverschlägen, jeder behaftet mit einer Nummer, thronten die schwerbeweglichen Weiber, Priesterinnen der käuflichen Ceres, Marktweiber aller Feld- und Baumfrüchte, aller eßbaren Vögel, Fische und Säuger, Kupplerinnen, unantastbare strickwollene Kolosse, welche von Stand zu Stand mit einander, sei es mit einem Blitzen der großen Knöpfe, sei es mit einem Klatschen auf ihre Schürze, sei es mit busenschwellendem Seufzen, verkehrten. Brodelte, quoll und schwoll es nicht unterm Saum ihrer Röcke, war nicht dies der wahrhaft fruchtbare Boden? Warf nicht in ihren Schoß ein Marktgott selber die Ware: Beeren, Schaltiere, Pilze, Klumpen von Fleisch und Kohl, unsichtbar beiwohnend ihnen, die sich ihm gaben, während sie träge, gegen Tonnen gelehnt oder die Waage mit schlaffen Ketten zwischen den Knien, schweigend die Reihen der Hausfrauen musterten, die mit Taschen und Netzen beladen mühsam die Brut vor sich durch die glatten, stinkenden Gassen zu steuern suchten. Wenn es dann aber dämmerte und man müde wurde, sank man tiefer als ein erschöpfter Schwimmer. Endlich trieb man im lauen Strom stummer Kunden dahin, die wie Fische auf die stachligen Riffe glotzten, wo die schwammigen Najaden sich’s wohl sein ließen …“ (2).

Das ist starke Sprache, Literatur eben, aber es könnte, bei Austausch der Straßennamen, durchaus an einem anderen Orte sein, noch nicht einmal notwendigerweise in Berlin, wenn auch in einer Großstadt, hilft uns also nicht, ein Bild von dem zu bekommen, was auf dem Magdeburger Platz einmal war. Ob Theodor Fontane bei seinem Blick über die Schulter zum Blumeshof und weiter zur Markthalle (siehe mitteNdran vom 18.1.2021) mehr gesehen hat, wissen wir nicht, beschrieben hat er´s leider nicht.

Sich eine Markthalle vorzustellen wo heute ein Spielplatz ist fällt schwer, auch wenn Markthallen gerade eine Renaissance erleben, vor allem die mitten in Wohngebieten, man denke nur an die Markthalle Neun (Markthalle IX) in der Kreuzberger Eisenbahnstraße, die Arminiushalle (Markthalle X) in Moabit, oder die Marheinekehalle (Markthalle XI) im Bergmann-Kiez. Aber das war nicht immer so, die wenigen der insgesamt 14 historischen Markthallen in Berlin, alle zwischen 1885 und 1900 gebaut, die den Krieg überstanden hatten, dienten nachher als ungeliebte Lagerhallen mitten in der Stadt, wenn sie nicht schon vorher abgerissen worden waren wegen mangelnder Nachfrage und Nutzung. Auch in der Halle am Magdeburger Platz (Markthalle V) sank die Zahl der Kleingewerbetreibenden bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, sie konnte aber weiter betrieben werden. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halle beschädigt und 1956 schließlich abgetragen (3).

Es gibt kaum Bilder von der Halle, selbst unter den unzähligen Postkarten, die um diese Zeit in großen Mengen auf den Markt kamen (Postkarten gab es in Preußen erst seit 1870) findet sich kein Foto der Markthalle V. Aber vielleicht war ja auch das Motiv für damalige Zeiten zu profan, und man bildete lieber prachtvolle, repräsentative Gebäude oder romantische Szenen ab wie den Magdeburger Platz im Schnee (Bild 1), obwohl der Platz und die Markthalle darauf kaum zu sehen sind.

Bild 2: Karte des Magdeburger Platzes und Umgebung von 1910 und heute (Karte: http://histomapberlin.de/histomap/de/index.html der Beuth Hochschule für Technik, Berlin)

Einen ersten Eindruck von der Dimension der Halle im Verhältnis zum Platz bekommt man auf einem Stadtplan von 1910 (Bild 2): Die Halle nahm ungefähr ein Fünftel des Platzes ein, „ihre Länge beträgt 68,54 m, ihre Breite 28,54 m, ihre Höhe  bis zur Oberkante des Hauptgesimses 7,1 m und bis zur First 13,84 m. Sie hat an jeder Seite einen Eingang von 3,92 m lichter Breite und ist mit einem erhöhtem Bürgersteig von 2 m Breite und einer 6,5 m breiten Fahrstrasse zum Aufstellen der Wagen umgeben, welche in der Achse der vier Eingänge 8 m breite Zufahrten von den den Platz umgebenden Strassen erhalten hat. Zu beiden Seiten dieser Zufahrten sind ebenfalls 2 m breite Bürgersteige zur Benutzung für die Besucher der Markthalle angelegt. Die übrigen Flächen des Platzes sind mit Gartenanlagen versehen worden, zu deren Schutz gegen das Betreten längs der Umfahrtsstrasse noch ein 1 m breiter Kiesweg angeordnet ist.“ (4).

Bild 3: Grundriss (unten) und Seitenansicht der Markthalle V. (aus: August Lindemann. Die Markthallen Berlins. 1899, Verlag Springer, Berlin, gemeinfrei).

Der Bau der Markthalle wurde am 3. April 1888 in Angriff genommen, die Eröffnung des Betriebes erfolgte bereits am 21. November des Jahres. Unter den 14 Berliner Markthallen war sie mit 1956 qm Grundfläche die kleinste und bot Platz für 188 Stände, 76 für Fleisch, Wild  und Geflügel, 15 für Fische und 96 für Obst, Gemüse u.a.m. sowie 150 qm freie Standfläche für Holzwaren, Vögel, Blumen etc. (Bild 3). Die Stände wurden vermietet – man kann auch sagen zwangsvermietet: es gab vorher einen offenen Wochenmarkt auf dem Magdeburger Platz (Bild 4), jetzt nötigte man die Händler, Stände in der Markthalle anzumieten, was der Stadt ab Dezember 1888 monatliche Einnahmen von etwa 7500 Mark einbrachte (4), basierend auf einer neuen Marktordnung (4).

Bild 4: Zeichnung: Der Markt auf dem Magdeburger Platz (aus: H. Brendicke. Die Entwicklung der Westvorstadt Berlin. Der Bär Nr. 17 vom 26.Januar 1889, S.217; gemeinfrei).

Es hat lange gedauert, bis ich ein Bild vom Inneren der Markthalle aufgetrieben hatte: Das vermutlich einzige Bild stammt aus einem Buch des Berliner Architekten und Stadtbauinspektors August Lindemann (1842-1921), der zusammen mit Stadtbaurat Hermann Blankenstein (1829-1910) in Berlin für viele der in typischem rotem Backstein gebauten öffentlichen Gebäude zuständig war (5). Dieses Foto (Bild 5) wurde vom damaligen Starfotographen Hermann Rückwardt (1871 – 1916) um 1890 angefertigt und ist im Buch von Lindemann zu finden (4). Nur ist das Buch schwer aufzutreiben, weil es von den Suchmachinen digitalisierter Bücher (Google-Books, WorldCat usw.) nicht gelistet wird, und ein gedrucktes Exemplar weder in der Staatsbibliothek Berlin, noch in den Bibliotheken der Humboldt- und der Freien Universität steht – am Ende war es die Berlin-Abteilung der Landeszentralbibliothek (LZB) mit einen Hinweis auf die Bibliothek der Technischen Universität, wo sich das Buch sowohl im Regal wie im digitalisierten Bestand (4) befindet.

Bild 5: Innenansicht der Markthalle V. (Foto von Hermann Rückwardt (1871 – 1916); aus: August Lindemann. Die Markthallen Berlins. 1899, Verlag Springer, Berlin, gemeinfrei.)

Die Markthalle V war mit ca. 341.881 Mark diejenige mit den geringsten Gesamtbaukosten, auch weil für sie kein Grundbesitz erstanden werden musste – der Magdeburger Platz war im Besitz der Stadt. Zum Vergleich: Die Markthalle X (Arminiushalle) kostete mit 796.578 Markt mehr als das Doppelte. Wegen der vielen Einsprüche der Anwohner musste die Fläche allerdings auf das Nötigste reduziert werden, und das trieb die Kosten pro Quadratmeter Markthalle auf 174,8 Mark (zur Vergleich: für die Arminiushalle waren es 147,00 Mark), was nur noch von der Zentralmarkthalle im teuren Innenstadtbereich übertroffen wurde – das werde ich mir in den Akten noch mal genauer anschauen müssen. Es klingt mir doch sehr nach einem typisch Berliner Sachverhalt: Markthallen sind schön, solange sie nicht in der Nachbarschaft sind.

 

Literatur

  1. Hermann Vogt . Die Straßen-Namen Berlins. Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins. Berlin, Verlag des Vereins für die Geschichte Berlins 1885, S. 59
  2. Walter Benjamin: Berliner Chronik / Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Kritische Gesamtausgabe, Band 11. Zwei Teilbände, Suhrkamp, Berlin 2019,
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Markthallen_in_Berlin
  4. August Lindemann: Die Markthallen Berlins. Ihre baulichen Anlagen und Betriebseinrichtungen im Auftrage des Magistrats. Springer, Berlin 1899, S. 48–49 und Tafeln 19 und 20 (digital zugänglich unter https://digital.ub.tu-berlin.de/view/work/bv024494008/143/?tx_dlf%5Bdouble%5D=0&cHash=74722b2a4267d1c1aaba63b651886665)
  5. https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Blankenstein

Ein Kommentar

  1. Guten Morgen!
    Ich bin heute wieder über den Magdeburger Platz geschlendert. Ein trauriger Anblick. Viel Grün an einem Ort, an dem früher das öffentliche Leben tobte. Ein Platz, der Tiergarten Süd ein Zentrum und damit auch ein Gesicht gab. Heute ein Sammelplatz für Kondome, Spritzen und käufliche Liebe auf dem untersten. Niveau. Erinnert mich an die grüne Potsdamer Straße Aktion des derzeit herrschenden Grünen Bürgermeisters, der es eher mit der sauberen hippen Großstadt hat, als mit seinen ärmeren und älteren Mitbürger*innen. Ein Stadtteil, ein Platz, der besseres verdient. Vielleicht eine Aufgabe für die Künstler*innengruppe Bauraum. So jedenfalls ist der Magdeburger Platz der eiternde Entzündungsherd am südlichen Wurmfortsatz von Berlin Mitte.

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