Straßen im Kiez: Schöneberger Ufer

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)

Theodor Fontane (1819-1898) wohnte zwar nicht im Kiez, sondern zumindest im letzten Drittel seines Lebens im Tiergarten (Potsdamer Straße 134c, die heutige Alte Potsdamer Straße, nahe am Potsdamer Platz). In den Jahren davor, seit 1833, hatte er, wie viele Berliner, die sich kein eigenes Haus leisten konnten, mehr als 25 verschiedene Adressen in Berlin, nebst temporären Wohnsitzen in London, Letschin und Burg bei Magdeburg.

Aber auf seinen ausgedehnten Spaziergängen in Berlin (1) ist er natürlich auch im Lützow-Kiez gewesen. Bekannt geworden ist sein Spaziergang am Landwehrkanal (2) 1889, um zur chinesischen Botschaft in der von-der-Heydt´schen Villa zu gehen – auf der anderen Seite des Kanals, da, wo heute das Bauhaus-Museum ist, auf dessen Grund die Villa noch steht, Sitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie war 1860 bis 1862 für den Bankier und preußischen Handels- und Finanzminister August von der Heydt (1801-1874) gebaut worden.

Heute ist der Weg von der Potsdamer Brücke auf der südlichen Uferseite entlang des Kanals, den Fontane, wie er sagte, regelmäßig ging, überhaupt nicht lauschig bei dem mehrspurigen Verkehr auf dem Schöneberger Ufer, zwischen Genthiner Straße  und Flottwellstraße. Aber man kann den Fußweg am Kanal entlang noch gehen, wenn man an der Potsdamer Brücke die kleine Treppe hinabsteigt. Nur dieses kurze Stück wollen wir Fontane begleiten …

Lützowbrücke, gebaut 1883/4, zerstört 1944/5 (Foto eines unbekannten Fotografen um 1920/1930, Bildarchiv Foto Marburg, Aufnahme fm821583 mit Genehmigung);

„…mit der Potsdamer Brücke beginnend … war ich alsbald bis an den Anfang jener Straßenlinie vorgedrungen, die sich unter verschiedenen Namen bis zu dem Zoologischen Garten hinaufwindet, die ganze Linie eine Art Deutz, mit Köln am anderen Ufer, dessen Dom denn auch, in Gestalt der Matthäikirche, herrlich herübersah, die Situation beherrschend. Und nun kam „Blumeshof“ [eine nicht mehr bestehende Straße zwischen der heutigen Kluckstrasse und der Elisabeth-Klinik] mit seinem Freiblick auf den Magdeburger Platz [auf dem damals eine der 14 Markthallen in Berlin stand] und eine kleine Weile danach, so war auch schon der Brückensteg da [Bild 1], der mich nach China hinüberführen sollte [die 1883/4 erbaute Lützowbrücke, im Krieg zerstört, an der Stelle, an der heute der Hiroshima-Steg ist]. So schmal ist die Grenze, die zwei Welten von einander scheidet. Eine halbe Minute noch, und ich war drüben …“. (2)

Zeichnungen „China in der Reichshauptstadt“ von Arthur Wanjura. Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familien-Zeitung. Chronik der Gegenwart. 22. Jahrgang, 1887, Seite 177;

Dieser im April 1889 geschriebene Text wurde 1890 in der Zeitschrift „Freie Bühne für modernes Leben“ veröffentlicht (3). Zwei Jahre zuvor hatte Arthur Wanjura, ein Buchillustrator, der unter anderem für Die Gartenlaube gearbeitet hatte, ein Bild spielender Kinder an der Mauer zur chinesischen Botschaft veröffentlicht, zusammen mit anderen chinesischen Impressionen aus Berlin (4) (Bild 2), das Fontane möglicherweise kannte und zu der Geschichte inspirierte (3), aber es hat auch dazu geführt, dass Fontanes Geschichte missverstanden wurde: in seinem Essay tauchen eben keine Chinesen an der Mauer auf und reichen Äpfel, wie gelegentlich geschrieben (5) – dafür „entdeckte“ Fontane beim anschließenden Besuch im „Josty“, einem historischen Café am Potsdamer Platz, zwei Chinesen – und wurde möglicherweise durch weitere Zeichnung von 1889 (Christian Wilhelm Allers – 1857-1915, (Bild 3)) inspiriert: die zwei „Chinesen in der Pferdebahn“, der eine Zeitung lesend, der andere neugierig in die Welt schauend, entsprechend so ganz Fontanes Beobachtung im Josty. Dabei handelte sich um Angehörige der Firma F. G. Taen-Arr-Hee, einer chinesischen Kaufmannsfamilie mit Niederlassungen in Berlin und Dresden, die Allers hier portraitiert hatte (6), und die auch im Begleittext zu den Wajura-Zeichnungen erwähnt werden. Aber so ist das, wenn man sich mit Literaten und anderen Künstlern einlässt: Da gehen Wirklichkeit und Fiktion spielend ineinander über.

Zeichnung von Christian Wilhelm Allers: Chinesen in der Pferdebahn. Aus: Spreeathener. Berliner Bilderbuch 1889 (Nachdruck). Rembrandt Verlag, Berlin 1979 (Blatt 13);

Bleiben wir bei der Wirklichkeit: Den Blick auf die Matthäuskirche, eines der wenigen Gebäude auf der Tiergartenseite, das die Bombardierungen 1945 überstanden hat, verstellen heute die Gebäude am Reichpietschufer (Nationalgalerie, Wissenschaftszentrum Berlin, Shell-Haus – noch mehr „Köln gegenüber von Deutz“), und da es den Blumeshof (oder: Blumes Hof) nicht mehr gibt, ist auch der freie Blick nach links auf den Magdeburger Platz nicht mehr möglich, ganz abgesehen davon, dass es auch die Markthalle nicht mehr gibt, nur noch Bilder davon.

Über die chinesische Botschaft in der Von der Heydtschen Villa war ich im Rahmen einer früheren Recherche gestolpert, auf der Suche nach dem Oeuvre einer Berliner Malerin, Elisabeth Poppe (später Poppe-Lüderitz) (1864-1930), Schwester des Berliner Arztes und Wissenschaftlers Dr. Carl Lüderitz (1850-1930), zu dessen Familie wir gerade ein Buch veröffentlicht haben (7). Eines ihrer Bilder heißt „Ein Mitglied der chinesischen Gesandtschaft“ und ist vor 1881 entstanden, aber bislang nicht gefunden worden. Da sie Portraitmalerin war, kann man davon ausgehen, dass sie dies nicht ohne Kenntnis der betreffenden Person gemalt hat. In Frage kommt daher nur eine Person aus der zweiten Gesandtschaft Chinas in Berlin (1878-1884), unter der Leitung von Li Fengbao. Diese umfasste nebst dem Botschafter selbst 13 Personen chinesischen Ursprungs (8), aber es gab natürlich mehr Chinesen im Berlin dieser Zeit.

Die Wahl fiel auf Yin-Chang (1859-1928), der als 19-jähriger Diplomat und Dolmetscher nach Berlin kam, nachdem er in Peking an der kaiserlichen Akademie für westliche Sprachen Deutsch gelernt hatte – und zwar so gut, dass er nicht nur mit seinen Deutschkenntnissen Journalisten verblüffte (man lese dazu das Interview im Berliner Tageblatt vom 9.2.1906), sondern auch damit, dass er „berlinerte“. Das Wiener Tageblatt von 1901 berichtet über seine Zeit in Berlin:

„Wo er auch durch seinen Chef Verwendung fand, bekundete er viel natürlichen Tact, Geschicklichkeit und bescheidenes aber doch unverkennbar mannhaftes Benehmen, wobei er in seinen äußeren Umgangsformen eine Art natürliche Noblesse, Offenheit und sympathisches Wesen besaß, so daß man sich förmlich zu ihm hingezogen  fühlte. All dieses kam ihm vorzüglich zu statten bei den damaligen großen Ball-Soiréen in der chinesischen Gesandtschaft, damals die interessantesten und glanzvollsten Ballfeste der Berliner Wintersaison. Auf denselben hatte Yin-Tschang die Aufgabe, die Damen des diplomatischen Corps und der Hofgesellschaft zu empfangen und in die Ballsäle zu führen, eine Function, welche er sich mit einer Eleganz, Gewandtheit und Liebenswürdigkeit entledigte, daß er förmlich zum Liebling der Damen wurde. Selbstverständlich war er bereits damals der deutschen Sprache in Wort und Schrift vollkommen mächtig … Seine kalligraphisch-schöne deutsche Handschrift machte überall Eindruck. Seine sprachlichen Wortspiele, voll Humor und Witz, deuteten auf ein immer tieferes Verständnis in Sprache und Wesen des Deutschen“ (9).

Der spätere Besitzer der von-der-Heydtschen Villa, Karl August von der Heydt, ein Neffe des Bankiers, der 1890 die Villa für die Familie zurückkaufte, schrieb über die chinesischen Mieter weniger enthusiastisch (10)

“ … Onkel Eduard … vermietete die Berliner Villa an die chinesische Gesandtschaft; zwölf Jahre wehte über ihr die Drachenfahne und als ich sie kaufte (1890) stellte sie noch ein kleines China dar. Aus den Zimmern, die bevölkert waren wie die Zimmer eines Gasthofes, schwälten dicke Rauchwolken von Tabak, Räucherwerk oder gar Opium, im Keller hingen kuglige chinesische Schinken, getrocknete Enten und Haifischflossen, der große gemauerte Herd hatte sich von fettigen chinesischen Küchengerüchen so vollgesogen, daß wir ihn ganz abbrechen mußten … Zwei Gesandte sind einander als Mieter der Villa gefolgt, die als Bewohner sehr verschieden zu bewerten waren. Der erste Li-fong-pao [er meinte Li Fengbao, aber der war bereits der zweite Gesandte, 1878-1884, der erste war nach 9 Monaten abberufen worden] war Gelehrter und ein durchaus europäisch gebildeter Mann von vornehmen Lebensgewohnheiten, mit dem mein Onkel gerne Verkehr unterhielt, sein Nachfolger durch und durch Chinese und bestrebt, seien Stellung geldlich auszubeuten. Er zwang sein ganzes diplomatisches Personal, sich bei ihm in der Gesandtschaft einzumieten, was dem Hause nicht gerade vorteilhaft war“ (10, S.18f).

Yin Chang als junger Mann in traditioneller Kleidung. Foto eines Gemäldes oder Fotos unbekannter Herkunft, vor 1900 (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Yinchang);

Der Nachfolger Li Fengbaos war offenbar der „Mietvandale“ – allerdings wohnten die Diplomaten auch unter Li Fengbao in der Villa, wie wir durch die Einträge im Berliner Adressbuch 1879 bis 1882 für Yin-Chang wissen. Dieser „Liebling der Damen“ war außerdem gut aussehend, mit mandschurischen Gesichtszügen, die dann eine der Damen so betörten, dass sie schwanger wurde, aber er wurde zurückbeordert, ging allein nach China und absolvierte dort eine politische Glanzkarriere (11). Er starb 1928, hochdekoriert, hatte aber seine Tochter in Bonn nie zu Gesicht bekommen, die zu einer echten Schönheit heranwuchs (12). Von ihrem Vater gibt es ein Portrait als jungen Mann (Bild 4), das in seiner Berliner Zeit entstanden sein müsste und das nach einem Gemälde aussieht, von dem ein Foto gemacht wurde. Auch wenn bislang das Original (und eine eventuell darauf vorhandene Signatur) noch nicht gefunden wurde, könnte dies doch mit einiger Wahrscheinlichkeit das Bild von Elisabeth Lüderitz sein – womit uns dieser Ausflug nach China zurück in den Lützow-Kiez bringt: Elisabeth Poppe-Lüderitz war bis 1896 ein Mitglied des Vereins Berliner Künstlerinnen (VBK), der ab 1893 in der Potsdamer Straße 39 (heute 98a, im Innenhof) seine Malschule hatte, da wo heute die Camaro-Stiftung ist, und sie hatte beim VBK auch ihre Malausbildung erhalten. Das schauen wir uns ein andermal an.

Literatur

  1. Theodor Fontane. Wie man so lebt in Berlin. Beobachtungen und Betrachtungen aus der Hauptstadt. Herausgegeben von Gotthard Erler. Aufbau-Verlag, Berlin, 2019 (2.Auflage)
  2. Theodor Fontane. Auf der Suche. Spaziergang am Berliner Kanal (1889). Aus: Vor und nach der Reise. Plaudereien und kleine Geschichten. F.Fontane & Co., Berlin 1894 (2. Aufl.), S. 157-166;
  3. Hans-Werner Klünner. Die ehemalige Von-der-Heydt-Villa und ihre Umgebung. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins, Jg. 76, Heft 1, 1980, S.122-130
  4. Das Buch für Alle. Illustrierte Familien-Zeitung. Chronik der Gegenwart. 22. Jahrgang, 1887, Seite 175-7
  5. Erich Gütinger. Die Geschichte der Chinesen in Deutschland. Ein Überblick über die ersten 100 Jahre seit 1822. Waxmann Verlag, Münster 2004
  6. Christian Wilhelm Allers: Spreeathener. Berliner Bilderbuch 1889 (Nachdruck). Rembrandt Verlag, Berlin 1979
  7. Paul Enck, Gunther Mai, Michael Schemann. Die Lüderitz-Familie. Geschichte und Geschichten aus drei Jahrhunderten. Hayit-Verlag, Köln 2021
  8. Eva Hausotter. Li Fengbao, der zweite chinesische Gesandte in Berlin (1878-1884); eine Darstellung seiner Karriere und eine kommentierte Übersetzung seines Tagebuches. Dissertationsschrift, Humboldt-Universität Berlin 1988
  9. Die Sühnegesandtschaft des Prinzen Tschung. Wiener Tagblatt Nr. 198, 22.7.1901, S. 3.
  10. Karl August von der Heydt. Unser Haus. Eigendruck, Elberfeld 1919
  11. https://en.wikipedia.org/wiki/Yinchang
  12. Andreas Klopper, Charles Ruas. The Ruas Family in Tientsin (Tianjin). In: Foreigners in China Magazin No. 3, 2019 (http://www.daicing.info/public_html/FICM3_Issue_3.pdf)

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