Nachruf auf einen – nahezu – unbekannten Kiezbewohner: Winfried Maier (19. Januar 1935 – 1. Juni 2023)

Gastbeitrag von Paul Enck

Bild 1: Standbild aus dem Film: Winfried Maier 2019 erzählt

Vor wenigen Tagen ist Winfried („Winnie“) Maier verstorben (Bild 1), am Freitag, den 30. Juni war seine Beerdigung auf dem Friedhof Alt-Schöneberg. Ich habe ihn nicht gekannt, was ich sehr bedaure, ich habe nicht mal von seiner Existenz gewusst, bis mich ein Leser dieses Blogs darauf aufmerksam machte, dass damit einer der letzten Zeitzeugen von uns gegangen ist, der vor, während und unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg im Lützow-Viertel gelebt hat. Und um diese Behauptung zu unterstreichen, gab mir Andreas Wieland seinen Film, den er zusammen mit Jürgen Hahn im Jahr 2020 über Winfried Maier gedreht hatte. Der zeigt in insgesamt 90 Minuten, wer da von uns gegangen ist: ein hellwacher Geist, der seine Kindheitserinnerungen an den Ausbruch des Krieges 1939, an die Bombennächte in Berlin in den Jahren ab 1943, und an die Straßenkämpfe deutscher und russischer Soldaten im Lützow-Viertel 1945 mit erstaunlicher Klarheit bewahrt hat. In den Jahren nach dem Krieg lernte er den Jazz-Musiker Louis Armstrong (1901-1971) kennen, sie wurden Freunde, und Winfried, der oft als Jazz-Experte für den RIAS arbeitete, konnte am Ende seines Lebens auf eine stattliche Sammlung von „Satchmo-Devotionalien“ zurückblicken (Bild 2). Diese können heute – zusammen mit anderen Sammlungen zu Louis Armstrong – digital im Louis Armstrong House Museum eingesehen werden (1).

Bild 2: Standbild aus dem Film: Winfried Maier um 1960 im Gespräch mit Louis Armstrong

Winfried Maier und sein jüngerer Bruder Volkmar wuchsen in der Lützowstrasse 75 auf, dem Haus neben dem Konzertsaal-Gebäude (Lützowstrasse 76), in dem der Bach-Saal (früher Blüthner-Saal) und der Schumann-Saal war; unter dem letzteren war der Luftschutzkeller für die Familien der Nachbarschaft. Die Eltern Maier sind im Adressbuch Berlins ab 1939 in der Lützowstraße 75 nachgewiesen, dem Jahr des Kriegsausbruchs – zuvor lebte die Familie in Kirchheim in der Niederlausitz. Winnies Vater verstarb früh (1942), seine Mutter zog ihre beiden Kinder allein auf. Er erlebte – und erzählt im Film – die Situationen im Keller bei Fliegerangriffen auf Berlin plastisch und dramatisch, er war derjenige, der nach dem Krieg im Luftschutzbunker unter dem Konzertsaal seine fortwährenden Alpträume kurierte. Im Jahr 2001 wies er einen Reporter der Berliner Zeitung (2) auf die Existenz dieses Überbleibsels aus der großen Zeit des Viertels als Berliner Musik-Mekka der Jahre 1900 bis 1933 hin (Bild 3).

Standbild aus dem Film: Titelseite der Berliner Zeitung vom 3./4 Februar 2001 mit Winfried Maier im Schumann-Saal

Winnie zog in den frühen 1960er-Jahren aus dem Viertel weg, das Haus Nr. 75 gibt es nicht mehr, aber seine Erinnerungen – das wird im Film sichtbar – haben das Viertel bewahrt. Der Film „Armstark, die Wunder und ich“ setzt ihm und dem Kiez ein würdiges Denkmal.

(Anmerkung: Wir werden den Film über Winfried Maier demnächst im Nachbarschaftscafé in der Lützowstrasse 27 zeigen – Näheres in diesem Blog)

 

  1. https://collections.louisarmstronghouse.org/collection-summary/36616
  2. Berliner Zeitung Nr. 29 vom 3./4. Februar 2001

Redaktion

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