Unser neues Berlin aus französischer Sicht…in Buchform

(c) Buchtitel vom Kulturverlag Kadmos

„Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe“.

Diese Neuerscheinung aus dem Kadmos Kulturverlag  ist eine lesenswerte Anthologie  (nicht nur) für uns Berliner: 22 zeitgenössische Autor*innen (geboren in der großen Zeitspanne von 1921 bis 1991) aus Frankreich, Belgien, Kanada und der Schweiz, schildern in stilistisch hochfeinen literarischen Stücken und Beiträgen ihre Eindrücke unserer Stadt nach der Wiedervereinigung. Allen Texten ist bei aller genauen und kritischen Beobachtungsgabe, den vielen Stimmen und Stimmungen, eines gemeinsam: große Sympathie, nein Liebe zur Stadt an der Spree.

Eine ganze Phalanx von Übersetzer*innen übertrug die Texte (sofern sie noch nicht in einer Übertragung vorlagen) und verstand es dabei, bravourös die elegante Nonchalance und den frankophonen Rhythmus der Originaltexte zu erhalten.

Dieses kunterbunte und mosaikartig zusammengesetzte Berlin-Kaleidoskop ist gegliedert in fünf Kapitel, in denen der Leser schwelgen darf: „Ankommen – Bleiben“, „Straßen – Häuser – Plätze“, „Liebenswertes Berlin“, „Schatten- Gespenster“ und „Zufluchtsort Berlin“.

Als Buchtitel wurde ein Zitat von Cécile Wajsbrot (seit 2019 Mitglied der Akademie der Künste Berlin) gewählt. Von ihr stammen ganze vier Beiträge, etwa die Schlaglichter auf die Gäste in ihrer Kaffeehaus-Studie „Im Kant Café“ oder ihre fluchtartige Zugreise (ohne Rückfahrticket) in das „Beruhigende Chaos“ unserer Stadt mit ihrer Ode an den Alexanderplatz „mit seiner fehlenden Schönheit“.

Hässlichkeit und lebendiges Leben bescheinigt Alban Lefranc (*1975) in „Hier passiert nie wieder etwas“ der Kreuzung Kurfürstenstraße  und Genthiner Straße in unserem Kiez. Er beschreibt mit Anaëlle Vanel ( von der zudem die Fotos stammen) im Jahr 2018 die Baustelle auf dem ehemaligen Parkplatz neben Möbel Hübner, und die Geschäftigkeit der dort arbeitenden Prostituierten, wie sie – nicht besonders zurechtgemacht –  auf dem Gehweg auf und ab tigern und Schutz suchen unter dem Vordach von Getränke Hoffmann. Lefranc  wirft am Sonntagmorgen einen scharfen Blick auf die Hinterlassenschaften der Nacht auf dem Asphalt: ein Sammelsurium aus bunten Präservativen, Papiertaschentüchern, Exkrementen und Schnapsfläschchen. Der Schriftsteller und Übersetzer, der in Berlin und Paris lebt, beschreibt den Bau der Luxuswohnungen an der Kreuzung, die sich an die Zielgruppe von „urbanen Freigeistern und weltoffenen Businessleute“ wendet, also an Investoren aus China, Russland, Deutschland und Kuwait, die das Viertel in ein „neues Soho“ verwandeln wollen. Der Autor bleibt in dieser Hinsicht skeptisch, zieht weiter und tröstet sich in die Budapester Straße bei seinem Lieblingsgriechen „Ja! Niko JA!“

Oscar Coop-Phane beschreibt in „Berlin Techno“ geradezu akribisch das berühmt berüchtigte Berghain, von der Tanzfläche, dem Panoptikum der Besucher*innen bis hin zur Unisex-Toilette, in der sich auch gern mal 8 Personen tummeln dürfen.

Das Thema „Stolpersteine“ greift Marie Ndiaye mit Ehrfurcht geradezu lyrisch auf. Sie reflektiert am Tag des 06. August 2008 anhand dreier Stolpersteine die Schicksale von Julius, Anna und Franz Wellenstein, die einst an einem Augustnachmittag im Jahr 1943 ihr Haus verlassen mussten und die vermutlich direkt zum Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald verbracht wurden, um nie mehr heimzukehren. Opfer des Holocaust.

Le Corbusiers in die Jahre gekommene Wohnmaschine (erbaut 1957 zur Bauausstellung) in Charlottenburg-Willmersdorf wird von Jean-Yves Cendrey als „Bienenstock mit tausend Boxen“ und „genialer Ort“ in einem „provinziellen Tokio“ beschrieben, in dem er als Autor schon einige seiner Romanfiguren angesiedelt hat. Er schildert die Überalterung der mit Rollatoren ausgestatteten Ur-Bewohnerinnen,  die nach und nach durch kosmopolitische Neuankömmlinge ersetzt werden.

Anregend wie eine grosse Schale Café au lait inspiriert der Band dazu, nie damit aufzuhören, dieses Berlin immer wieder neu und weiter zu entdecken – denn es ändert sich schneller als man schreiben – und lesen kann.

Im Anhang werden die einzelnen Autor*innen sämtlich vorgestellt. Die Rubrik „Zum Weiterlesen und -hören“ bietet dem Leser noch mehr Futter.

Die beiden Romanistinnen Dorothee Riss und Margarete Zimmermann haben dieses Buch wirklich mit Herz, Kopf und Verstand komponiert. Merci beaucoup!

Zum Buch:

Kadmos Verlag, Dorothee Risse & Margarete Zimmermann (Hg.)

„Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe“

192 Seiten, 16 Schwarzweißfotos , Klappenbroschur, 19,90 Euro

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