Zu Unrecht vergessen – der Berliner Verleger Erich Reiss

(ein Beitrag von Peter Kröger)

Als der deutsche Verleger Erich Reiss, Inhaber des gleichnamigen Verlages, im November 1939 in New York an Land geht, liegt ein Lebenswerk hinter ihm. Er hat von seinem einst bedeutenden Buchverlag nicht viel mehr retten können als die nackte Existenz, er wird nie wieder den Boden seines Heimatlandes und Berlins betreten, wird die meisten Verwandten, Vertrauten und Freunde, die er hat zurücklassen müssen, nie wiedersehen.

Erich Reiss (Foto: Lotte Jacobi; © 2021 University of New Hampshire, Lotte Jacobi Collection)

Erich Reiss ist 52 Jahre alt, als in der Emigration sein letzter, sein amerikanischer Lebensabschnitt beginnt. Mit der Sprache ist er wenig vertraut und fremdelt mit der Mentalität der neuen, so anderen Umgebung. Deutsch ist seine Muttersprache, von Deutschland ist er geprägt, deutsch ist seine Herkunft und deutsch sind die über 450 Buchtitel, die er im Laufe seiner verlegerischen Tätigkeit herausgebracht hat, womit er zu seiner Zeit „im oberen Drittel deutscher Verlage“ rangierte.

Der Name „Erich Reiss Verlag“ ist 80 Jahre danach nur noch Insidern in Deutschland bekannt. Sucht man nach den Namen von Verlegern, begegnet man immer denselben – Samuel Fischer, Leopold Ullstein, Ernst Rowohlt, Kurt Wolff, Gustav Kiepenheuer etc.. Aber Erich Reiss? Kopfschütteln bei den meisten. Eine Erinnerungstafel in Berlin? Ein Stolperstein? Fehlanzeige. Ein Eintrag im Online-Brockhaus? Nicht vorhanden. Bei Wikipedia? Ja, aber fehlerhaft. Fazit: Der Verleger Erich Caesar Reiss ist weitgehend vergessen – Folge des mörderischen Umgangs der  Nationalsozialisten mit jüdischen Deutschen. Sie sollten ausgemerzt und aus dem Gedächtnis getilgt werden. Erich Reiss ist ein trauriges Beispiel.

Grabstätte der Eltern Alexander und Helene Reiss auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee (Foto: P.Kröger)

Geboren wurde Erich Caesar Reiss am 24. Januar 1887 in Berlin als zweiter Sohn der Eheleute Alexander und Helene Reiss, jüdische Deutsche, die in Leben und Denken als beispielhaft für die Integration gelten dürfen. Die Familie war national und kaisertreu eingestellt. Bei Erich Reiss‘ Geburt lebte die Familie im Haus Wichmannstraße 8 im Bezirk Tiergarten, das im Familienbesitz war, unweit von Zoo und Landwehrkanal. Der Vater hatte es als Kaufmann und Unternehmer mit der Fabrikation künstlicher Blumen in der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg zu beträchtlichem Wohlstand gebracht und besaß in Berlin Immobilien in bester Lage. Die Eltern hielten sich mit Rücksicht auf den kränkelnden Vater oft in Marienbad und Karlsbad, in Wiesbaden und Baden-Baden, an der französischen und italienischen Riviera sowie in der Schweiz aber auch Kopenhagen und Stockholm auf, immer in den ersten Hotels, meist begleitet von den beiden Söhnen Walter und Erich, von Privatlehrern und Hausmädchen.

In einem „Merkbüchlein für die Lebensweise meiner beiden geliebten Jungen“ charakterisiert die Mutter Erich als einen phantasiebegabten Knaben mit einem trockenen Humor. Von seinem Hauslehrer wurde Erich Reiss schon früh mit der Welt der Bücher vertraut gemacht. Dieser weckte in ihm wohl auch die Liebe zur Bibliophilie.

Ob Erich Reiss einen Schulabschluss machte oder gar ein Studium betrieben hat, ist nicht bekannt. Der Militärdienst blieb dem jungen Mann aus gesundheitlichen Gründen erspart. Nach dem Tod des Vaters 1901 erbte er ein beachtliches Vermögen, über das er aber erst nach Erreichen der Volljährigkeit mit 21 Jahren 1908 verfügen konnte. Über dessen Verwendung war der junge Mann allerdings nie im Zweifel gewesen – er würde einen Buchverlag gründen. Schon zeitig begann er mit den Vorbereitungen, sodass die Eintragung im Handelsregister des Jahres 1909 nur noch eine Formsache war. Zu Anfang residierte der Verlag in Berlin Westend unter der Adresse Kaiserdamm 26, zog aber schon 1910 um ins Elternhaus, in die Wichmannstr. 8, ein altes vornehmes Gebäude, das  leider im 2. Weltkrieg zerstört wurde.

Titelgestaltung im Reiss-Verlag durch Erich Büttner (1889-1936), Public domain, via Wikimedia Commons

Schon in jungen Jahren hatte Reiss begonnen, sich in den unterschiedlichsten Sparten der Literatur umzusehen. Er kannte die deutschen Klassiker, aber auch Shakespeare, beobachtete die Entwicklung junger Autoren in Deutschland, in Frankreich und Italien, las Literaturzeitschriften, aber konnte sich nicht für eine bestimmte Ausrichtung seines Bücherprogramms entscheiden. Wahrscheinlich wollte er es gar nicht. Und so wurde Vielfalt das Markenzeichen des Erich Reiss Verlages, ganz geprägt von Vorlieben und vom Geschmack sowie von der Persönlichkeit des Verlegers. Wie nur wenigen anderen seines Berufsstandes lag Reiss die bibliophile Seite seiner Bücher am Herzen, für deren Gestaltung er so bekannte Namen wie Walter Tiemann und Georg Salter, Erna Pinner und ebenso seinen Freund George Grosz verpflichtete. Schon mit nur 18 Jahren wurde Reiss Präsident der Deutschen Bibliophilen Gesellschaft und blieb es bis zur Verlagsgründung.

Zu Reiss‘ Freunden zählte schon früh der unvergessene Max Reinhardt, der wie kaum ein anderer die Theaterszene in Deutschland zwischen den Weltkriegen bestimmt hat. Im Erich Reiss Verlag wurden bis Mitte der 1920er Jahre 76 Dramen und 23 Titel über das Schauspiel als künstlerische Gattung veröffentlicht. Enge Beziehungen hatte Reiss zum gerade neu gegründeten Berliner Hebbel-Theater, in dem sein Bruder Walter sich zeitweise finanziell erheblich engagiert hatte. Einige Jahre war er neben seinem Beruf als Verleger auch als Dramaturg tätig, u.a. am Deutschen Theater in Berlin.

Reiss verlegte deutschsprachige Klassiker wie Johann Wolfgang von Goethe und Georg Büchner, aber auch Nikolaus Lenau, dessen „Faust“ mit Radierungen von Hans Meid er selbst als das schönste Buch seines Verlages bezeichnete. An jüngeren Autoren konnte er u. a. Gottfried Benn, Klabund, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Toller, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Maximilian Harden, Ivan Goll, Johannes R. Becher, André Gide und Maurice Maeterlinck für eine Zusammenarbeit gewinnen. Auch Egon Erwin Kisch fand durch Reiss den Weg vom engagierten Zeitungsschreiber zum ernsthaften Literaten.

Gottfried Benn: Das moderne Ich, in Tribüne der Kunst, Erich Reiss Verlag (Foto: P.Kröger)

Auch Zeitschriften erschienen im Erich Reiss Verlag wie die „Tribüne der Kunst und Zeit“ mit dem Schwerpunkt Expressionismus, „Der Anbruch“, eine Zeitschrift für moderne Literatur und Kunst, der „Styl“, in der Verlagswerbung als Luxus-Zeitschrift bezeichnet, die sich vor allem der Mode und den „angenehmen Dingen des Lebens“ widmete, und – nicht zu vergessen – erschien bei Reiss auch der Dada-Almanach.

Bedingt durch die politischen Ereignisse ist eine vollständige Übersicht des verlegerischen Gesamtwerks von Erich Reiss nicht erhalten, nur Teile sind dokumentiert. Über die Zahl der Mitarbeiter in den verschiedenen Phasen gibt es keine verlässlichen Aussagen. Verträge, Manuskripte und andere Unterlagen sind entweder vernichtet oder müssen als verschollen gelten. Und auch die Korrespondenz mit den Autoren des Verlages existiert nicht mehr. Bücher aus dem Erich Reiss Verlag wanderten im Frühsommer 1933 auf die Scheiterhaufen, die allerorts, nicht nur in Berlin, loderten. Frieda Vieck geb. Sonntag, einst Sekretärin des Verlegers, bezeugte bald nach seinem Tod, dass „nicht einmal mehr ein vollständiges Verlagsarchiv“ existiert.

Durch das Missmanagement seines Prokuristen Erich Krüger geriet der Verlag 1926 in schwere Turbulenzen. Eine endgültige Auflösung des Verlages konnte zwar durch einen Vergleich abgewendet werden, aber nach 1926 existierte das Unternehmen nur noch in deutlich reduzierter Form und konnte nie wieder zur alten Bedeutung zurückfinden. Reiss musste sogar das elterliche Haus in der Wichmannstraße 8 verkaufen und zog mit seiner Mutter in eine Etagenwohnung in der Fasanenstraße 44. Bis 1936 wurden lediglich noch 45 Buchtitel publiziert. Und auch das war nur möglich, weil der Verleger immer wieder Teile seines Immobilienbesitzes veräußerte. Nach Einschätzung Hans Adolf Halbeys ist der Verlag am Ende nicht „im eigentlichen Wortsinn aufgelöst“ worden, sondern wurde von Propagandaminister Goebbels „einfach beschlagnahmt“. Nach 1937 ist der Erich Reiss Verlag nirgendwo mehr registriert.

Obschon Erich Reiss in Berlin, in Deutschland und über dessen Grenzen hinaus von einem Geflecht vielfältiger Beziehungen umgeben war, sind nur wenige Aussagen zu seiner Person überliefert. Das mag damit zusammenhängen, dass viele seiner Autoren, wie er selbst, nach 1933 emigrieren mussten oder unter dem Naziterror ums Leben kamen. Nachstehend einige Aussagen von Personen, die den „kleinen und zierlichen“, immer gut gekleideten Verleger mit dem „schönen, fast alexandrinischen Kopf“ persönlich gekannt haben. Kasimir Edschmid erinnerte sich an „das schönste Männerlachen, voll alttestamentarischer Wärme und heller Lustigkeit“, er beschreibt ihn als „liebenswert“ mit einem „trockenen Humor, […]“. Und für Paul Ferdinand Schmidt war Reiss „[…] einer der vornehmsten Vertreter gesitteter und idealistischer Verlegermoral, ein humaner und nobler Charakter, wie er unter Juden nicht selten zu finden ist […]“.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die politischen Zeichen der Zeit standen gegen Erich Reiss. Zwar belegten die Nationalsozialisten seinen Verlag nach der Machtergreifung nicht sofort mit besonderen Sanktionen, aber Reiss beschränkte sich ab 1933 aus freien Stücken darauf, nur noch jüdische Autoren zu verlegen und seine Bücher auch nur noch bei jüdischen Unternehmen herstellen zu lassen. 1935 machten die Nazis aus der Freiwilligkeit ein staatliches Verbot der Zusammenarbeit mit sogenannten Ariern.

Für Erich Reiss kam das „Aus“ seines verlegerischen Lebenswerkes Ende 1938. Am Tag nach der Pogromnacht vom 9. November wurde er festgenommen und ins Konzentrationslager Sachsenhausen nördlich von Berlin eingeliefert, wo er die Häftlingsnummer 7707 erhielt und erheblich misshandelt wurde.

Erich Reiss setzte mit Unterstützung der dänischen Journalistin und Autorin Karin Michaelis nach knapp fünf Wochen zum 15. Dezember 1938 seine Freilassung durch. Wenig später erreichte die Schriftstellerin Selma Lagerlöf mit Unterstützung des schwedischen Königs Gustav V. zum April 1939 die Ausreise von Reiss nach Schweden. Dort war er einige Monate Gast des Verlegers Karl Otto Bonnier, bis ihm schließlich ein Visum für die USA ausgestellt wurde, dank so prominenter Fürsprecher wie Max Reinhardt und Ernst Lubitsch sowie dank der Bürgschaftsverpflichtung seines älteren Bruders, der bereits früher in die USA emigriert war. In New York lernte er Lotte Jacobi kennen, eine deutsche Fotografin, die aus einer jüdischen Fotografen-Familie stammte. Sie wurde  1896 in Thorn im heutigen Polen geboren und emigrierte 1935 aus Berlin nach New York , da das NS-Regime ihr die weitere Arbeit in Deutschland unmöglich gemacht hatte. Im Oktober 1940 heirateten Erich Reiss und Lotte Jacobi. Für den Verleger war es die erste Ehe. Es wurde eine glückliche Verbindung. Beide erhielten Mitte der 1940 er Jahre die US-Staatsbürgerschaft.

Obschon Lotte Jacobi als Fotografin bereits einen guten Namen hatte – vor ihrer Kamera posierten so berühmte Leute wie Albert Einstein, Max Planck, Thomas Mann, Lotte Lenya, Kurt Weill oder Eleanor Roosevelt – blieb die wirtschaftliche Lage des Paares bis zum Tod des Verlegers 1951 prekär. Erich Reiss und Lotte Reiss-Jacobi lebten im Herzen Manhattans, in 46 West 52. Straße, zwischen der berühmten Fifth und der Sixth Avenue.

Nach dem 2. Weltkrieg nahm Erich Reiss schon bald wieder den Kontakt zu seinem einstigen Autor Gottfried Benn auf, mit dem er seit den 1920er Jahren befreundet war. In den folgenden fünf Jahren erreichte den Dichter ein Dutzend handschriftlicher Briefe aus New York. Im Wesentlichen schilderte Reiss darin sein Leben an der Seite Lotte Jacobis in der Emigration, verbunden mit Erinnerungen an die Jahrzehnte als Verleger in Berlin und die Freundschaft mit dem Dichter.

In den schwülen Sommern der US-Ostküste flohen Lotte Jacobi und Erich Reiss oft für mehrere Wochen auf eine Farm bei Hillsboro in New Hampshire, die Lottes Schwiegertochter gehörte. Hier richteten sie sich in einem einfachen Leben ein, Wasser musste aus einem Brunnen gezogen werden, und Strom gab es in den ersten Jahren nicht.

Zu Beginn des Jahres 1951 erkrankte Erich Reiss an einer Blinddarmentzündung, die nicht rechtzeitig erkannt wurde. Es kam zu einer gefährlichen Komplikation, die er nur knapp überlebte, körperlich geschwächt und seelisch angeschlagen. Seinen letzten Brief an Benn vom 4. März 1951 unterzeichnete er mit „Ihr altes endgültiges Wrack“. Zwei Monate später, am 8. Mai 1951, starb er mit 64 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls. Seine Urne wurde auf der Farm bei Hillsboro beigesetzt.

Erich Caesar Reiss, ein „körperlich und nervlich zarter Mensch, so daß sein Freund Arthur Kahane ihn ‚Mimoses‘ nannte“, darf, auch in der Rückschau, als einer der wichtigen deutschen Verleger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelten. Er ist ohne seine Zeit oder in einer anderen kaum denkbar. Nachkommen hatte der Verleger nicht, er lebte einzig für die Literatur, Geld bedeutete ihm wenig, war Mittel zum Zweck, ließ den Traum vom eigenen Verlag Wirklichkeit werden und sicherte vielen jungen, aber auch arrivierten Schriftstellern Lohn und Brot und – das vor allem – öffentliche Anerkennung. Der Erich Reiss Verlag etablierte sich in Deutschland als eine feste Größe, anspruchsvoll in Inhalt und Form. Der Verleger war seinen Autoren verlässlicher Partner und uneigennütziger Berater, wenigen sogar Freund.

Im kulturellen Gedächtnis Deutschlands ist Erich Reiss nicht mehr präsent.  Sein Leben wurde zwar nicht vernichtet, aber nachhaltig zerstört durch die menschenverachtende Rassenpolitik des NS-Regimes. Nur in manchen Antiquariaten finden sich noch Bücher aus seinem einst bedeutenden Verlag, dessen Name aber heute kaum noch jemandem etwas sagt. Die Nazis haben – so schwer es ist, das festzustellen – im Fall von Erich Reiss ganze Arbeit geleistet.

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