Spaziergang mit Lia Hiltz und Paul Enck (8): Das Kotmeer

Bild 1: Cartoon von Lia Hiltz ©.

Zu Lias Bild (Bild 1) passt ganz gut ein Zitat aus der Vossischen Allgemeinen Zeitung, der „Tante Voss“ vom Oktober 1846: „Schreiten wir durch das Potsdamer Thor nach dem Landwehrgraben zu, so gerathen wir auf einen schönen, großen, freien Platz, der sich bei schlechtem Wetter in ein tiefes Kothmeer verwandelt … Wir kommen an die Grenze Berlins, an den Landwehrgraben …“ (1). Aber ganz so wie auf dem Bild war es dann doch nicht.

Ende des 17. Jahrhunderts (also vor 1700) und für die nächsten 100 Jahre wohnte hier noch niemand, wuchs das Dorf Schöneberg, 5 km südlich vor der Stadt, gerade einmal von 120 (im Jahr 1624) auf 278 Seelen (1801) (2), während die Stadt Berlin im gleichen Zeitraum von 8.100 auf 176.000 Einwohner anwuchs, aber sie wohnten zum großen Teil innerhalb der Stadtmauern im Norden. Und wenn doch jemand hier wohnte, z.B. ein Bauer oder ein Gärtner, so hatte er eine Sickergrube hinter dem Haus für die menschlichen „Abfälle“. Das Problem mit der Abfall-Entsorgung trat zuerst in der Stadt auf, wo es mit zunehmender Verdichtung des Wohnens nicht nur weniger Sickergruben gab, sondern das Schmutzwasser in die Gosse geleitet wurde und von dort in die Spree – und bis etwa 1870 auch in die Kanäle der Stadt, beispielsweise in den Luisenstadt-Kanal im heutigen Kreuzberg (Luisenstadt).

Das „Kotmeer“ entstand vielmehr dadurch, dass die vielen Gärtner, darunter viele hugenottische Gärtner der Stadt, die seit 1685 (Edikt von Potsdam) nach Preußen eingewandert waren, diesen „schönen, großen, freien Platz“ vor dem Potsdamer Tor für Gemüseanbau nutzten, und dafür den in der Stadt und der Umgebung eingesammelten Kot aus den Sickergruben einer nützlichen Verwendung als Dünger zuführten. Dieses „Tonnensystem“ war keine Berliner Spezialität, das gab es überall in Preußen, Deutschland und Europa und wurde erst nach und nach durch eine Kanalisation beseitigt, die das Schmutzwasser auf die Rieselfelder weit vor der Stadt transportierte – zur Freude der Gesundheitsämter, aber zum Leidwesen der Gärtner. Und davon gab es viele hier (Bild 2).

Bild 2: links: Berlin-Karte von 1798, Ausschnitt zwischen Tiergarten und Landwehrkanal (gemeinfrei); rechts: Auszug aus dem Adressbuch von Berlin für 1812 (https://digital.zlb.de/viewer/image/34111583/207/) (gemeinfrei). Von den 70 Einwohnern (Haushalten) dieses Bezirkes (A bis E) war etwa die Hälfte die von Gärtnern (blau markiert) und Gastwirten.

 

Und da das Land vor dem Potsdamer Tor niedriger lag als die Stadt selbst, kam es bei Regen zu Überschwemmungen und die „blühenden Landschaften“ verwandelten sich in ein Kotmeer, auch noch 1846, als sich Berlin anschickte, diesen Teil seiner Vorstädte, z.B. die Friedrichsvorstadt, in das Stadtgebiet einzuverleiben: Gewinner dieses Prozesses waren übrigens vor allem die Gärtner, deren Land plötzlich das bis zu 100-Fache wert war und die teilweise in die Immobilienbranche auswanderten und Spekulanten wurden (s. mittendran.de vom 6. April 2021).

Literatur

1: Zitiert nach Karl Gaillard, in: Der Bär, Jahrgang 14, 1887, S. 13f

2: Wilhelm Feige: Rings um die Dorfaue. Ein Beitrag zur Geschichte Schönebergs. Verlag Theodor Weicher, Berlin/Leipzig 1937, Seite 137

swi

Mehr über Lia erfahren Sie hier; mehr zu Paul hier.

 

Schreibe einen Kommentar