Spaziergang in die Vergangenheit (30): Leni Riefenstahl im Lützow-Viertel – wirklich?

Manche Recherchen beginnen mit einem Fragezeichen. Als mich Alexander Darda auf das Foto einer Firma A. Riefenstahl an der Kurfürstenstraße Ecke Landgrafenstraße (Bild 1) aufmerksam machte mit der Frage, ob dies die Landgrafenstraße 20 sein könne, war ich erst mal skeptisch, ob dies überhaupt etwas mit Leni Riefenstahl (1901-2002) zu tun habe, der bekannten und umstrittenen Filmemacherin, die den Nationalsozialisten mit Propagandafilmen gedient hatte, die aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg mit Fotokunst von sich reden gemacht hatte.

Bild 1: Eingang zum Lager der Firma A. Riefenstahl im Untergeschoss des Hauses Landgrafenstraße 20 Ecke Kurfürstenstraße (Foto von 1928, Fotograf unbekannt, in Privatbesitz PE).

Ein Suche in verfügbaren Internet-Quellen ergab dann tatsächlich gleich drei Überschneidungen der Biografie von Leni Riefenstahl mit dem Lützowviertel, wenngleich sie nie hier im Viertel, noch nicht einmal in der Nähe, gewohnt hatte.

Der Vater Albert Riefenstahl hatte von 1920 bis 1931 ein Sanitäts-Installationsgeschäft in der Kurfürstenstraße 113, wenngleich das Lager in der Landgrafenstr. 20 (Bild 1) im Adressbuch in diesem Zeitraum nicht verzeichnet war; in dieser Zeit wohnte die Familie außerhalb Berlins, in Zeuthen (Dahme-Spree-Kreis), Lindenallee 1 (Bild 2). Auf dem Schild über dem Eingang im Foto heißt es: Kontor gegenüber. Um zu überprüfen, ob das Foto des Lagereingangs tatsächlich Landgrafenstraße 20 war, haben wir die Bauakte (1) eingesehen und konnten anhand des Plans des Untergeschosses (Kellers) des Hauses den Eingang zum Lager auf dem Foto eindeutig identifizieren. Unklar bleibt, warum das Lager der Firma nicht im Adressbuch verzeichnet war. Der Eigentümer des Hauses war seit 1925 die Firma Märkisches Fabrik- und Handelskontor; möglicherweise hat sie die Kellerräume selbst genutzt, aber einen Teil untervermietet – und nicht gemeldet. Ausweislich biografischer Informationen (2) hat Leni Riefenstahl im Kontor der Firma ihres Vaters eine Zeit lang gearbeitet, als sie die Schule beendet hatte.

Bild 2: Anzeige der Firma Alfred Riefenstahl im Berliner Adressbuch von 1931.

Bevor sie ihre Filmkarriere startete, war Leni Riefenstahl eine talentierte und anerkannte Tänzerin der neuen Tanzform „Ausdruckstanz“ (3), die mit Namen wie Clotilde von Derp (1892-1974), Mary Wigman (1886-1973), Gret Palucca (1902-1993) u.a. verbunden ist (Bild 3). Sie nahm Tanz-Unterricht an der Grimm-Reiter-Schule am Kurfürstendamm, ursprünglich eine Kinder-Ballettschule, die in dieser Zeit gelegentlich Aufführungen im Scharwenka-Saal des Klindworth-Scharwenka-Konservatoriums in der Genthiner Straße 26-28 und im Lützow-Theater (zuvor: Ballsaal der Viktoria-Brauerei) in der Lützowstraße 111-113 hatte; ob Leni Riefenstahl hier mitwirkte, ist nicht dokumentiert. Gesichert sind Solo-Tanzaufführungen der Riefenstahl im Schwechtensaal (Februar 1922) und im Blüthner-Saal (27.10. und 10.11.1923) (Bild 4), beide in der Lützowstraße 74, sowie auf weiteren Bühnen Berlins (Beethoven-Halle, Thaliasaal/Volksbühne). Ihren ersten Solo-Auftritt hatte sie angeblich anstelle der erkrankten Anita Berber (1899-1928). Leni Riefenstahl tourte mit ihrem Tanzdarbietungen durch Deutschland und das Ausland, bis Knie- und Knöchelverletzungen ihrer Tanzkarriere ein Ende setzten. 1926 trat sie in ihrem ersten Film „Der heilige Berg“ auf. Danach begann ihre Karriere als Filmschauspielerin und Regisseurin.

Bild 3: Foto von Leni Riefenstahl um 1924 (Quelle: Hamburger Echo vom 12. 1. 1924, Fotograf unbekannt, gemeinfrei)

Bild 4: Anzeigen aus dem Berliner Tagblatt vom 3.4.1919 (oben) und in der Berliner Börsenzeitung vom 19.10.1923.

Leni Riefenstahl ging in eine Privatschule in Tiergarten bis zur mittleren Reife. Dies war das „Kollmorgen´sche ehemals Crainsche Lyzeum“ (Bild 5), gegründet von Lucie Crain (1833-1902). Lucie Crain war die Tochter des Gymnasialdirektor Prof. Carl Ferdinand Crain aus Wismar, aus Thalwinkel in Thüringen gebürtig, einem bekannten Philologen und Sprachkundler für Latein und Griechisch. Er hatte vier Kinder, Lucie war die einzige Tochter; sie besuchte zwar eine höhere Töchterschule in Wismar, konnte aber keinen Beruf erlernen, da sie für die Pflege ihrer Eltern bis zu deren Tod 1864 bzw. 1865 sorgen musste, so schreibt sie in einem Lebenslauf (4). Sie ging nach Berlin und gründete dort 1867 in der Schellingstrasse 15 ein Mädchenpensionat, zog damit 1873 in die Landgrafenstraße 3, wo sie 1874 eine Höhere Töchterschule und ab 1882 auch Vorschule für Knaben einrichtete. 1885 verlegte sie die Schule in die Keithstr. 11 (Bild 6) in ein eigens gebautes Schulgebäude und 1893 eröffnete sie eine Handelsschule für Mädchen im Westend (Villa Tanneck, Ahornallee 46-48). Lucie Crain starb am 22. März 1902 im Alter von 69 Jahren, und Julie Kollmorgen (1862 – nach 1945), die ihr aus Stettin gefolgt war, übernahm die Schulleitung von 1904 bis in die späten 20er Jahre. Leni Riefenstahl besuchte diese Schule zwischen 1914 und 1918 (2).

Bild 5: Anzeige in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 9.9.2906.

Bild 6: Anzeige in der Kölnischen Zeitung vom 30.6.1885.

Von diesen drei Überschneidungen der Biografie Leni Riefenstahls mit der Geschichte des Lützow-Viertels erscheint uns die dritte von einiger Bedeutung, ergänzt sie doch unsere bisherigen Kenntnisse über die Schulen des Lützow-Viertels um eine wichtige, weil sehr frühe höhere Ausbildungsinstitution für Mädchen, neben dem bereits vorgestellten Victoria-Lyceum in der Potsdamer Straße (mittendran vom 18. Mai 2024). Wir werden also in Kürze eine weitere Folge der Serie „Erziehung und Wissenschaft damals“ hier veröffentlichen.

Literatur

  1. Landesarchiv Berlin (LAB): B Rep. 202 Nr. 4277, Bauakte Landgrafenstr 20.
  2. Mario Leis. Leni Riefenstahl. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2009.
  3. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Ausdruckstanz
  4. LAB: A Rep. 020-01 Nr. 2236 (Privatschulen, Höhere Töchterschule des Frl. Crain)

Paul Enck

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