Medizingeschichte im Lützow-Viertel (4)
Der Armenarzt Dr. Johann Wolfert

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck, www.paul-enck.com)

Endlich mal jemand, der es verdient hätte, dass eine Straße nach ihm benannt worden wäre: Dr. Johann Carl Albert Wolfert (1830-1909), Armenarzt im Lützow-Viertel, als dies noch die Schöneberger Vorstadt war, von 1856 bis 1909. Leider kennt ihn niemand, und hätten wir nicht nach ihm gesucht, hätte sich dies auch nicht geändert. Hier also ein kleines Denkmal für Dr. Wolfert, einen Armenarzt im Lützow-Kiez.

Das Armenarztsystem:

Es gab in Berlin seit 1695 eine königliche „Armenkommission“, deren ursprüngliche Zielsetzung die Bekämpfung der Bettelei war, deren Aufgabe aber dann die „Verpflegung der Armen, Kranken und Waisen“ wurde; 1785 betreute diese Kommission fast 10% der Berliner Bevölkerung. Im Jahr 1819 wurde die Betreuung des „Armenwesens“ der Stadt übertragen und umorganisiert, es gab danach eine städtische Armenkommission und Armenbeauftragte und Armenärzte, bei steigender Bedürftigkeit durch Stadtverdichtung, nach wie vor mangelhafter städtischer Hygiene (Kanalisation wurde erst nach 1870 eingeführt), und Proletarisierung der frühindustriellen Arbeitsverhältnisse. Im Jahr 1826 bestand die „Armendirektion“ aus Bürgermeister, Stadtverordneten und freiwilligen Bürgern, darunter Ärzte, Kaufleute, Geistliche, die diese Aufgaben ehrenamtlich übernahmen.

Nach der Städteordnung von 1853 wurden größere Orte in Bezirke unterteilt; 1865 waren dies in Berlin 111 Bezirke, die jedoch nicht mit den heutigen Bezirken vergleichbar waren. Jeder Bezirk bekam einen Bezirksvorstand – den der Schöneberger Vorstadt für die Jahre 1865-1869 haben wir schon kennengelernt (s. mittendran vom 14. April 2022); jeder Bezirk hatte auch einen Schiedsmann für Streitfälle, einen Armen-Kommissionsvorsteher und eben einen zuständigen Armenarzt (Bild 1). Armenmedizin hatte in Berlin (Preußen) daher eine lange Tradition (1); 1853 wurde sie unter Beteiligung der Armenärzte neu geregelt, in dem Jahr wurde auch der Verein Berliner Armenärzte gegründet (2).

Bild 1: Adressbuch der Stadt Berlin von 1865: Der Armenarzt Dr. Wolfert betreut den Armenbezirk 22 /Viktoriastraße, Bendlerstraße). Zwanzig Jahre später (1885) hat er die neu organisierten Bezirke 31 bis 39 (Schöneberger Vorstadt) mit insgesamt 34.500 Einwohnern.

Zählt man die Einwohner aller Stadtbezirke für das Jahr 1885 zusammen, kommt man auf 1.268.879, was etwa der Einwohnerzahl von Berlin im gleichen Jahr (1,3 Mio.) entspricht. Die Anzahl der „Hausarmen“ betrug 1885 ca. 45.000 (3.8%) (3), nicht eingerechnet also Arme, die in Armenhäusern lebten. Die Anzahl der Armenärzte war in diesem Jahr 63. Die Zahl und Verteilung der Ärzte auf die Armenbezirke erfolgte also derart, dass jeder Armenarzt ungefähr 700 „Hausarme“ zu betreuen hatte. Im Mittel war ein Armenarzt so für etwa 20.000 Einwohner zuständig, aber in Arbeitergegenden konnten es auch erheblich weniger sein, weil der Prozent-Anteil der Armen höher war, z.B. in der Stralauer Vorstadt (= Moabit, Wedding), in den reicheren Stadtbezirken dagegen erheblich mehr, z.B. in der Dorotheenstadt und der Friedrichstadt. Die Schöneberger Vorstadt galt ebenfalls als eher privilegiert (Bild 1).

Die 63 Armenärzte im Jahr 1885 bekamen für ihre Tätigkeit von der Stadt ein Gehalt; hinzu kamen eine Reihe von Spezialärzten (Augenärzte, Kinderärzte), die nur gelegentlich konsultiert und dafür nicht regelmäßig entlohnt wurden. Das Gesamtbudget der Stadt für die Honorare der Armenärzte betrug in diesem Jahr 60.150 Mark, und ein Jahr später (1886) 81.890 Mark, d.h. das Jahresgehalt eines Armenarztes stieg von weniger als 1000 Mark (1885) auf 1300 Mark (1886) im Jahr (in Kaufkraft heute ca. 10.000€ (4)) – dies entsprach etwa dem Gehalt eines mittleren Angestellten im öffentlichen Dienst, war also für Anfänger ein durchaus attraktiver Einstieg in die Berufstätigkeit. Denn Berlin hatte auch damals schon tendenziell eine medizinische Überversorgung. Nur sind die meisten Armenärzte nach einigen wenigen Jahren aus diesem System ausgestiegen – Dr. Wolfert blieb sein ganzes Leben lang Armenarzt, hat aber sicherlich weitere Patienten gegen Bezahlung behandelt.

Ein Armenarzt behandelte üblicherweise Prostituierte, von denen es in Berlin um 1900 ca. 20.000 gab (s. mittendran vom 23. Februar 2022), an Sommerdiarrhöe leidende Kinder infolge verdorbener Milch, Waisenhaus-Pfleglinge, Leiden aufgrund schlechter Luft oder Schimmelpilzbildung in überhitzten Mietskasernen, Schwindsüchtige und Geschlechtskranke (Bild 2). Zu seinen Patienten zählten aber auch Obdachlose, Arbeitslose und generell Menschen ohne Krankenversicherung (Anfang 1900 noch 85 % der Bevölkerung, erst 1883 hatte der Reichstag das Krankenversicherungsgesetz erlassen), die sich eine Privatkonsultation nicht leisten konnten. Er war zuständig für deren Medikamentenverordnungen, Krankschreibungen und Krankenhauseinweisungen. Ab 1874 gab es in Preußen die Impfplicht gegen Pocken – auch dafür war der Armenarzt zuständig.

Bild 2: Ölgemälde „Der Arzt der Armen“ von Jules Léonard (1827-1897) (Wikipedia, gemeinfrei)

Armenarzt Dr. Wolfert

Johann Carl Wolfert kam am 1. Juli 1830 in Berlin zur Welt, seine Eltern waren Johann Gottlieb Wolfert (1791-1865), Doktor der Medizin und Chirurgie, und dessen Ehefrau Emilie Caroline (1802-1875) geb. Lorentz. Sein Vater kam aus Halle a. d. Saale, aber die Eltern hatten 1829 in Berlin geheiratet und bekamen in der Folge sechs Kinder (drei Jungen), Johann Carl war der älteste.

Bild 3: Das Gymnasium zum Grauen Kloster, links das Schulhaus, mit Laubengang zum Direktionshaus und Alumnat (Stahlstich, Autor und Datum unbekannt, gemeinfrei: https://www.graues-kloster-mitte.de/das-berlinische-gymnasium-zum-grauen-kloster/)

Er machte, ausweislich seines Lebenslaufes (s. unten), das Abitur am Gymnasium zum Grauen Kloster (Gymnasium Leucophaeum Berolinensis), Berlins ältestem Gymnasium (seit 1574!) (Bild 3) „zu Michaelis“ (29. September, Ende des Schuljahres) 1851.

Bild 4: Auszug aus dem Universitätsmatrikel vom 18.10.1851, Matrikel-Nr. 2/42. Rektorat, S. 28 (bereitgestellt vom Archiv der Humboldt-Universität)

 

Er immatrikulierte sich am 18. Oktober 1851 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (Matrikel-Nr. 2 im 42.Rektorat) und studierte Medizin bis zum 16. Oktober 1855 (Bild 4) – in der Zeit wohnte er zu Hause bei seinen Eltern, Hinter der Garnisonskirche 1.

 

 

Er promovierte zum Dr. med. am 6. August 1855 mit einer in Latein geschriebenen Arbeit „De nervo musculi levatoris palati“ („Über die Innervation des Musculus levator palatini“, eines Gaumensegel-Muskels), die auch 100 Jahre später noch zitiert wurde (5). Der Arbeit vorgestellt ist ein ebenfalls in lateinischer Sprache abgefasster Lebenslauf (Bild 5), in dem er auch seine akademischen Lehrer auflistet, ein Who is Who der Medizin dieser Zeit.

Bild 5: Titelblatt und Lebenslauf der Dissertationsschrift von Dr. Wolfert (aus der Studienakte des Dr. Wolfert, bereitgestellt vom Archiv der Humboldt-Universität)

 

 

Im Jahr 1856 wurde er als Arzt zugelassen (approbiert); im gleichen Jahr wurde er Mitglied im Verein der Armenärzte (2) und als Armenarzt im Norden von Berlin (Ackerstraße) zugeteilt. In der Nachfolge können wir seine Tätigkeit als Arzt und Armenarzt über das Berliner Adressbuch gut verfolgen, spätestens 1868 zog er in die Schöneberger Vorstadt, wo er für den Rest seines Lebens praktizierte, auch wenn die Praxis gelegentlich innerhalb des Bezirks umzog – der Armenarzt musste in „seinem Bezirk“ wohnen. Zuerst hatte er seine Praxis in der Eichhornstraße 1, zuletzt hatte er die Praxis in der Potsdamer Str. 43a (heute: 110, die südliche Ecke an der Pohlstraße),

Er heiratete am 8. November 1864 in der Marienkirche die 19-jährige Emilie Ottilie Ludwike Ostermann, offenbar hatte er in den vorangegangenen 10 Jahren seine Praxis so weit etabliert, dass er nicht allein vom Gehalt eines Armenarztes seine Familie ernähren musste. Im Dezember 1865 kam ihr einziges Kind, Gottlieb Ludwig Artur, zur Welt, der die medizinischen Fußstapfen von Vater und Großvater verließ und – via Heirat 1913 – Fabrikant und Teilinhaber der Firma Fröbe & Co. in Charlottenburg wurde. Im Jahr 1915 ist er allerdings nicht mehr im Adressbuch von Berlin und Charlottenburg,

Der „Geheime Sanitätsrat Dr. Wolfert“

Viel mehr könnten wir vermutlich über den Armenarzt Dr. Wolfert nicht berichten, hätte das Adressbuch von Berlin in Jahr 1882 nicht zum ersten Mal den Titel „Sanitätsrat“ berichtet, und zehn  Jahre später (1893) sogar den Titel „Geheimer Sanitätsrat“ (Bild 7). Dazu muss man wissen: Diese nicht-akademischen Titel wurde vom preußischen Kultusministerium (korrekt: Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten) für mindestens 20-jährige Verdienste im öffentlichen Gesundheitswesen verliehen. Eine Akte des Ministeriums für die Jahre 1898 bis 1899 (6) gibt Auskunft: Von den ca. 2500 Ärzten im Berlin des Jahres 1898 bekamen 25 den Titel „Sanitätsrat“, davon wiederum ein sehr geringer Teil den des „Geheimen Sanitätsrates“. Vorschlagsrecht dafür hatten Ministerialbeamte, aber auch Gemeindevorsteher und andere Personen des öffentlichen Lebens. Was aber wichtig ist: In diesen Fällen gibt es Aktenvorgänge im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem.

Bild 6: Zwei Akten des Geheimes Staatsarchivs Berlin-Dahlem (7)

Zwei Akten lagen vor (Bild 6) (7), die gesammelten Ernennungen zu Sanitätsräten zwischen 1879 und 1882, und die Ernennungen zu Geheimen Sanitätsräten von 1889 bis 1891. Was wichtig ist zu wissen: Die Vorschlagsliste des Ministeriums ging zunächst zwecks Überprüfung der Kandidaten an den Polizeipräsidenten von Berlin. Dabei wollte man unter anderem ermitteln, ob der Arzt bereit war, die damit verbundenen 300 Mark „Stempelgeld“ zu bezahlen. Die preußische Bürokratie ließ sich dieses als privat angesehenes Privileg offenbar gern bezahlen und erhob deftige Gebühren: Diese 300 Mark waren in jenen Jahren etwa ein Viertel des Jahresgehaltes eines Armenarztes. Dazu war offenbar nicht jeder Arzt bereit oder in der Lage. In einem Schreiben des Polizeipräsidenten an den Minister vom 14. Juni 1899 schilderte dieser, dass die Erkundungen manchmal von der örtlichen Schutzpolizei durchgeführt worden seien, was den einen oder anderen der „Auserwählten“ mit Sicherheit verärgert habe.

Bild 7. Kopie des Ernennungspatentes zum Geheimen Sanitätsrat für Dr. Wolfert (aus: 7)

Das Einschalten des Polizeipräsidenten zur Beurteilung der fachlichen Leistungen eines Arztes verwundert ein wenig, hatte aber noch einen ganz anderen Hintergrund, wie aus dem Schreiben des Polizeipräsidenten vom 9. März 1891, jetzt an den Minister Goßler, betr. Ernennung zum Geheimen Sanitätsrat zehn Jahre später hervorgeht (Bild 7). Polizeipräsident von Richthofen hatte bei Dr. Wolfert keine Einwände, merkte aber an, dass die „gleichzeitig in Erwägung gebrachte Auszeichnung des Sanitätsrathes Dr. Ehrenhaus, welcher zu den angesehensten Aerzten der Stadt zählt, glaube ich nicht befürworten zu dürfen, da der Genannte seine Zugehörigkeit zur deutsch-freisinnigen Partei durch die Abstimmung bei der letzten Landtagswahl öffentlich bekundet hat“ (!). Mit anderen Worten: Der Polizeipräsident und seine Behörde überprüften die politische Gesinnung der Kandidaten, und in anderen Fällen auch ihre „moralisch-sittliche Eignung“, was immer darunter verstanden wurde. Was uns daran erinnert, dass Preußen im gesamten 19. Jahrhundert noch ein Polizeistaat war, trotz oder am Ende sogar wegen der (vergeblichen) Revolution im März 1848.

Nach diesen Auszeichnungen 1882 und 1891 praktizierte der Geheime Sanitätsrat Dr. Wolfert noch bis 1908, also insgesamt mehr als 50 Jahre. In seinem letzten, 79. Lebensjahr wohnte er in der Steglitzer Straße 49 (heute Pohlstraße), dort verstarb er am 24. Januar 1909. Vier Jahre später, 1913, als ihr gemeinsamer Sohn heiratete, war auch seine Frau nicht mehr am Leben.

Literatur

  1. Armenmedizin in Berlin: siehe Findbuch A Rep. 003-01 im Landesarchiv „Königliche Armendirektorium / Magistrat der Stadt Berlin, Armendirektion“ (2012) (http://www.content.landesarchiv-berlin.de/php-bestand/arep003-01-pdf/arep003-01.pdf)
  2. Julius Pagel. Zur Geschichte des Vereins Berliner Armenärzte. ein Beitrag zur Geschichte der Medizin insbesondere des Armen-Medizinalwesens in Berlin. Berlin, Verlag August Hirschwald 1904
  3. Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Festschrift, dargeboten den Mitgliedern der 12.Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte von den städtischen Behörden. Berlin: Stuhrsche Buchhandlung 1885
  4. https://www.bundesbank.de/resource/blob/615162/f742acf5e38ae52a12a689a112d32012/mL/kaufkraftaequivalente-historischer-betraege-in-deutschen-waehrungen-data.pdf
  5. Nickl, A. Über die Innervation des Musculus levator veli palatini durch den Nervus facialis. Archiv für Psychiatrie und Zeitschrift Neurologie184, 117–132 (1950); Moritz, W. Über die Funktion und Innervation der Muskulatur des weichen Gaumens. Z. Anat. Entwickl. Gesch.109, 197–206 (1938).
  6. Geheimes Staatsarchiv, I HA Rep. 76 VIII A, Nr. 865, Seiten 163 ff
  7. Geheimes Staatsarchiv, I HA Rep. 76 VIII A, Nr. 855 und 859.

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