Erziehung und Wissenschaft damals (7): Das Crain´sche Lyceum

 Wir hatten neulich berichtet, dass Leni Riefenstahl bis zur mittleren Reife in eine Privatschule in Tiergarten ging (mittendran vom 28. Juni 2025). Dies war das „Kollmorgen´sche ehemals Crainsche Lyzeum“ (Bild 1), gegründet von Lucie Crain (1833-1902). Das wollen wir uns heute genauer anschauen, war es doch, neben dem Victoria-Lyceum in der Potsdamer Straße (mittendran vom 18. Mai 2024), eine der ersten Schulen für Mädchen im heutigen Lützow-Viertel, die eine „höhere Bildung“ anboten, zwar noch nicht mit dem Ziel der Hochschulreife, aber beispielsweise schon für eine Ausbildung zur Lehrerin.

Bild 1: Anzeige in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 19. September 1915

Die Herkunft der Lucie Crain aus Wismar

Lucie Crain war die Tochter des Gymnasialdirektors Prof. Carl Ferdinand Crain aus Wismar, einem bekannten Philologen und Sprachkundler für Latein und Griechisch. Sie war nicht, wie gelegentlich behauptet, eine gebürtige Schottin oder Engländerin, die die Töchter der Kronprinzessin Victoria unterrichtet hatte (1), anders als Giorgiana Archer, die Gründerin des Victoria-Lyceums, die dem Sohn der Kronprinzessin Victoria, Wilhelm, dem späteren Kaiser Wilhelm II., Englisch beigebracht hatte.

Ihr Vater war aus Thalwinkel in Thüringen, geboren am 4. Februar 1787 und Sohn des Küsters und Dorfschullehrers Johann Christoph Crain. Er studierte Theologie und Philologie in Leipzig und kam im November 1814 nach Wismar an die Große Stadtschule. Nach zehn Jahren Unterricht in den unteren Klassen gab er ab 1824 Latein- und Griechisch-Unterricht in den oberen Klassen und wurde 1826 Rektor der Schule, die er bis 1863 leitete. 1839 wurde er zum Professor ernannt.

„Was seine geistige Arbeitsfähigkeit betrifft, so arbeitete Crain sehr rasch und leicht. Er hat sich spielend in alle Gebiete des Schulunterrichts hineingefunden. Er gab Lateinisch, Griechisch, aber auch Religion, Mathematik, Physik, deutsche Sprache und Literatur. Er schrieb rein und fließend Latein, verfaßte mit großer Leichtigkeit deutsche und altsprachliche Gedichte aller Art. Ja, noch in seinem letzten Lebensjahrzehnt vergnügte er sich an der Anfertigung lateinischer Gedichte.”  (2). Bekannt und gerühmt wurden auch seine Übersetzungen klassischer deutscher Gedichte wie Goethes „Erlkönig“ ins Altgriechische.

Er heiratete dreimal: Zunächst am 7. November 1823 die noch minderjährige, 20-jährige Maria Margaretha Calsow, geboren am 10. September 1803 zu Hoickendorf; sie starb am 12. Februar 1829, möglicherweise im Kindsbett. Am 25. November 1830 heiratete er Maria Sophia Margarete Schröder; mit ihr hatte er vier Kinder, Lucie war die einzige Tochter und das zweitjüngste Kind, geboren am 25. Oktober 1833. Die Mutter starb am 6. März 1838 und hinterließ ihren Mann mit vier Kindern im Alter von 2 bis 7 Jahren. Daraufhin heiratete er am 14. März 1840 die Schwester seiner zweiten Frau, Sophie Friederike Christine Schröder, die die Kinder aufzog. Sie starb am 30. April 1864; er starb im Folgejahr, am 9. Oktober 1865 (Bild 2).

Bild 2: Die Familie Crain in Wismarer Familienbuch (Quelle: Archion).

Eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt

In einem Lebenslauf von 1869 (3) klagte Lucie Crain über ihre unzureichende Ausbildung: Sie besuchte zwar eine höhere Töchterschule in Wismar, konnte aber keinen Beruf erlernen, da sie für die Pflege ihrer Eltern bis zu deren Tod 1864 bzw. 1865 sorgen musste. Sie ging dann nach Berlin, um bei ihrem Bruder Adolph Moritz Wilhelm (*1832) zu wohnen, der seit 1860 Lehrer am hiesigen Königlichen Wilhelms-Gymnasium (damals Bellevuestraße) war (4) (Bild 3), aber der in diesem Jahr 1869 verstarb. Ihr jüngerer Bruder Ulrich, geboren 1836, starb 1888 in einer Heil- und Pflegeanstalt in Colditz in Sachsen, und der Älteste, Friedrich August Ferdinand, geboren 1831, wurde Amtshauptmann zu Rostock und starb im Jahr 1901.

Bild 3: Das Königliche Wilhelms-Gymnasium Berlin (Quelle: Wikipedia, gemeinfrei).

Sie schrieb 1869 in einem Antrag zur Errichtung eines Lyceums: „Am 15ten Sept. 1867 traf ich in Berlin ein und fand meinen Bruder sehr krank. Am 20ten Sept. starb er, und ich war wieder allein, dazu fremd in der fremden Stadt. Nun war ich mehr denn je darauf angewiesen für mich zu sorgen; ich versuchte die Wünsche und Pläne meiner Jugend zu verwirklichen und bin so glücklich gewesen, das Vertrauen mancher Eltern zu gewinnen, so daß ich bald einen Kreis junger Mädchen um mich versammelte“ (3). Sie gründete nämlich 1867 in der Schellingstraße 15 ein Mädchenpensionat und warb in deutschen und ausländischen Zeitungen um Zöglinge (Bild 4). In diesen Anzeigen verwies sie auch auf wichtige Unterstützer ihrer Bildungsinitiative, darunter adlige Damen der Berliner Gesellschaft und wichtige Erziehungsexperten wie die Direktoren der beiden bedeutendsten Gymnasien der Stadt, Dr. Ranke vom Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in der Kochstraße und Dr. Kübler vom Königlichen Wilhelms-Gymnasium in der Köthener Straße.

Bild 4: Anzeige in der Kölnischen Zeitung vom 13. März 1869, Seite 7.

1873 zog das Pensionat in die Landgrafenstraße 3, wo sie ab 1874 zudem eine höhere Töchterschule und ab 1882 auch eine Vorschule für Knaben einrichtete. Eine Beschwerde der Baupolizei (Sanitätsabteilung) vom Oktober 1883 wies auf zu enge Räumlichkeiten für zu viele Kinder und unzureichende Belüftung in einzelnen Klassenzimmern. Dies wurde aber nicht als verantwortlich angesehen, als es zwei Jahre später (Juni 1885) zu fünf Fällen von Diphterie unter den Schülerinnen kam, von denen vier tödlich verliefen. Diese auch heute noch meldepflichtige bakterielle Infektionserkrankung der Atemwege wurde zu Beginn den 20. Jahrhunderts auch „Würgeengel der Kinder“ genannt. Bei der hohen Zahl von Kindern in der Schule, die meist nicht aus der unmittelbaren Nachbarschaft kamen, wurde diese Erkrankungsrate als eher erwartbar angesehen (5).

In diesem Jahr (1885) verlegte Fräulein Lucie Crain die Schule in die Keithstr. 11 in ein neu gebautes Schulgebäude, das zunächst (1884) als Wohnhaus geplant war und dem praktischen Arzt Dr. Blasius gehörte, der in der Magdeburger Straße 32 (heute: Kluckstraße 3, auf dem Gelände der Villa Lützow) wohnte; 1888 kaufte Lucie Crain das Haus, wobei wir keinerlei Informationen über den Kaufpreis und die Finanzierung haben. Es hatte bei einer Grundstücksfläche von 1300 qm (Bild 5) auf drei Etagen 10 Klassenräume und eine Wohnung für Lucie Crain zur Keithstraße, mit einer repräsentativen Häuserfront (Bild 6) und einem 32 Meter tiefen Seitenflügel; 1897 wurde im Hof zusätzlich eine Turnhalle gebaut (Bild 7) (6). Die durchschnittliche Zahl der Schülerinnen der Schule, nebst wenigen Jungen in der Vorschule, betrug hier pro Jahr etwa 450 (3).

Bild 5: Situationsplan des Schulgebäudes in der Keithstraße 11 (aus: Bauakte (6)).

Bild 6: Bauzeichnung der Hausfassade Keithstraße 11 (aus: (6)).

Bild 7: Bauzeichnung der Turnhalle Keithstraße 11 (aus (6)).

Bereits 1876 hatte Lucie Crain zusätzlich ein Lehrerinnen-Seminar eröffnet, das 1890 zwei Klassen mit 50 Schülerinnen umfasste – ein vorsichtiger Anfang der akademischen Ausbildung von Frauen. Die volle Hochschulreife sollte noch mehr als 40 Jahre dauern, auch wenn einzelne Frauen bereits vorher zum Studium der naturwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Fächer zugelassen worden waren. Im Jahr 1893 eröffnete Lucie Crain darüber hinaus ein Pensionat für Mädchen im Westend, in der Villa Tanneck in der Ahornallee 46-48 (Bild 8).

Bild 8: Foto des Mädchen-Pensionats Villa Tanneck in Charlottenburg (Quelle: Archiv des Architekturmuseums der TU Berlin, B_3736_46, gemeinfrei)

Die diversen Erziehungsinstitutionen der Lucie Crain erhielten viel öffentliche Aufmerksamkeit: Im April 1886 besuchte die Kronprinzessin Viktoria, die sich hier und anderswo für die Mädchenbildung einsetzte, die Schule in der Keithstraße; 1894 erhielt sie von der Jury der Weltausstellung in Chicago einen Preis für die ausgezeichneten unterrichtlichen Leistungen ihrer Schülerinnen in den sprachlichen Fächern (Deutsch, Englisch, Französisch) und im Zeichnen, die sie zur Begutachtung eingesandt hatte. Das 25. Jubiläum 1899 wurde in einer großen Feierstunde begangen; inzwischen arbeiteten 50 Lehrer und Lehrerinnen an den Institutionen, und Lucie Crain erhielt bei dieser Gelegenheit die silberne Frauen-Verdienstbrosche am weißen Bande (7).

Die Schule unter der Leitung von Julie Kollmorgen

Lucie Crain starb am 22. März 1902 im Alter von 69 Jahren, und Fräulein Julie Kollmorgen übernahm die Schulleitung von 1904 bis in die 20er Jahre.

Julie Friederike Louise Kollmorgen wurden am 9. September 1862 geboren und am 15. Oktober in der St. Marienkirche in Stettin getauft. Ihre Großeltern waren der Hornist und spätere Kapellmeister Johann Georg Christian Kollmorgen (*17. Oktober 1809) und dessen Frau Johanna Christina Dorothea Sass (*15. Mai 1811), beide aus Wismar, die am 30. Juli 1833 heirateten und drei Kinder bekamen. Das mittlere dieser Kinder war der am 29. Mai 1836 in Wismar geborene und spätere Kaufmann Ludwig Friederich Johannes Kollmorgen, Julies Vater. Er heiratete um 1860 Anna Pauline, geborene Langefeldt (1845-1918), vermutlich aus Berlin, und hatte mit ihr vier Töchter und einen Sohn, die in Stettin zur Welt kamen; Julie war das älteste dieser Kinder. Dann zog die Familie nach Berlin, wo 1875 ein weiterer Sohn auf die Welt kam. Der Vater starb am 11. Mai 1879 mit nur 42 Jahren und 11 Monaten in der „Städtischen Irren- und Verpflegungs-Anstalt“ (Alexanderplatz 4), vermutlich war seine Krankheit der Grund für den Umzug von Stettin nach Berlin.

Wir wissen wenig über die Ausbildung der Julie Kollmorgen bis zum Mai 1885, als sie in Berlin die Prüfung zur Turnlehrerin an Mädchenschulen bestand und bei dieser Gelegenheit notiert wurde, dass sie in Berlin als Lehrerin tätig war (8). Sie war zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits im Kollegium des Crainschen Lyceums. In den Anzeigen der Schule ab 1904 war Julie Kollmorgen die Vorsteherin der Privatschule, und die verschiedenen Schulen hießen von nun an „Kollmorgen`sche vormals Crain`sche Lehranstalten“. Julie Kollmorgen führte die Lehranstalten in Sinne ihrer Gründerin weiter, versuchte aber darüber hinaus 1914 eine Verlagerung der Schule in die städtischen Außenbezirke (Straße 14, heute Heerstraße 48-50), möglicherweise war der Plan, das Schulgebäude in der Keithstraße dafür zu verkaufen. Dieser Plan scheiterte allerdings in der Zeit der Hyper-Inflation nach dem Ersten Weltkrieg aus finanziellen Gründen (9). Das Kollmorgensche Lyceum war bis 1920 im Adressbuch, dann wurde es offenkundig aufgelöst; in die Keithstraße 11 zog die Genossenschaft deutscher Bühnenarbeiter ein, die die Turnhalle zu einem Theater- und Konzertsaal (Förster-Saal) umbauen ließ. Im Folgejahr (1921) war Julie Kollmorgen als Schulinspektorin im Adressbuch, sie wohnte jetzt in Charlottenburg unter der Adresse (Reichsstraße 9), die zuvor ihre Mutter gehabt hatte, die im Frühjahr 1920 dort verstorben war. Von 1920 bis 1927 war Julie Kollmorgen Rektorin der Caroline von Humboldt-Mittelschule für Mädchen in Schöneberg (Winterfeldstraße 16) (Bild 9); in den Jahren 1929 und 1930 war sie „außer Dienst“ (a.D.) gestellt. Dann haben wir sie aus den Augen verloren und bis heute nicht wiederfinden können.

Bild 9: Anzeige im Adressbuch von Berlin 1927.

Die „Kollmorgen`sche vormals Crain`sche Lehranstalten“ hatten, wie viele andere private Höhere Töchterschulen, nach dem Ersten Weltkrieg ausgedient, inzwischen konnten Mädchen wie Jungen an regulären Schulen das Abitur machen und anschließend studieren, auch wenn der Weg bis zur vollständigen Gleichstellung noch lange währen sollte und teilweise noch heute nicht erreicht ist. Lucie Crain und Julie Kollmorgen hatten ebenso wie Georgiana Archer (1829-1881), Alix von Cotta (1842-1931), Helene Lange (1848-1930) und viele andere Frauen diesen Weg geebnet.

Literatur

  1. Generalanzeiger vom 26. März 1902, Seite 7, ebenso der Schwäbische Merkur vom 2. April, Seite 6, anlässlich ihres Todes.
  2. https://www.pantoia.de/Anthologien/Crain1860/vita.html.
  3. Akte im Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 020-01 Nr. 2236.
  4. Jahresbericht des königlichen Kaiser-Wilhelms-Gymnasium in Berlin 1868, Seite 46f.
  5. Bauakte Landgrafenstraße 3 im LAB: B Rep. 202 Nr. 4265.
  6. Bauakte Keithstraße 11 im LAB: B Rep. 202 Nr. 5002.
  7. Norddeutsche Allgemeine Zeitung vom 30. April 1886, Seite 2 und vom 30. August 1894, Seite 2; Deutscher Reichsanzeiger vom 23, Oktober 1899, Seite 3.
  8. Deutscher Reichsanzeiger vom 28. Juni 1887, Seite1.
  9. Akte im LAB: A Pr. Br. Rep. 042 Nr. 21329 und 21330.

Paul Enck

Schreibe einen Kommentar