Die Straßen im Kiez: Lützowufer

(ein Beitrag von Prof. Dr. Paul Enck)

Auf unserem heutigen Ausflug treffen wir auf echte und falsche Barone am Lützowufer, das ja bekanntlich an der Genthiner Straße anfängt und (ursprünglich) westlich bis zum Zoo ging; heute heißt der letzte Teil Katharina-Heinroth-Ufer, benannt nach der Biologin Katharina Bertha Charlotte Heinroth, geborene Berger (1897-1989). Zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah es hier noch ganz anders aus (Bild 1): Der Lützowplatz war noch kein Park, sondern eher so etwas wie eine Wiese, auf der noch Kühe weideten und Holz lagerte, daran schloss sich der Krug´sche Garten an, eine bei Berlinern beliebte Ausflugsadresse, dann folgte ein Stück Land entlang dem Schafgraben, das bis etwa 1870 zum „Lützower Feld“ gehörte, gefolgt vom „Park Birkenwäldchen“, direkt am Rande des Zoologischen Gartens. Wir sind jetzt im äußersten westlichen Zipfel von Berlin, eigentlich in Charlottenburg (seit 1705 mit Stadtrechten ausgestattet). Und am äußersten Ende des Lützow-Viertels allemal, manche würden auch sagen jenseits der Grenzen, aber was soll´s: Jedem seinen eigenen Kiez, und dies ist meiner.

1: Lage des Cottage Caroline (rechts unten) im Park Birkenwäldchen (Quellen: die Karten sind digital frei zugänglich bei der Zentralen Landesbibliothek Berlin (ZLB), die Abbildung des Cottage Caroline aus: Bruce S. Cheeseman, Ed. Maria von Blücher´s Corpus Christi. Letters from the South Texas Frontier, 1849-1879. Texas A&M University Press, Corpus Christi 2002)

Hier lebten, zumindest für kurze und nicht unbedingt zur gleichen Zeit, drei adlige Familien, deren „starke Frauen“ leider nicht in das ansonsten lobenswerte Buch über „Frauengeschichten aus Tiergarten“ (1) aufgenommen wurden, aber eine zumindest hat es in einen zeitgenössischen Roman geschafft, und eine hat selbst ein Buch über ihr Leben geschrieben. Um die Geschichten etwas spannender zu machen, hier davon Kurzfassungen:

Plot 1: Frau von Adel A (1798-1859) heiratete 1819 Herrn von Adel B (1794-1840); sie bekommen in der Nachfolge sieben Kinder, von denen zwei (*1832 und *1834) im Kindesalter verstarben. Im Jahr der Geburt des letzten Kindes (1834) verließ Herr von Adel B seine Frau, die eine „skandalöse Beziehung“ mit Herrn Vielleicht-von-Adel C (1801-1886) begann. Die Ehe wurde geschieden, und Herr von Adel B beging 1840 Suizid. Frau von Adel A heiratete 1839 Herrn Vielleicht von Adel C und zog zu ihm an das Lützowufer; sie starb 1859. Die Kinder hielten zunächst Distanz zu ihm, aber zuletzt wohnte eine der Töchter in seinem Haus. Herr Vielleicht-von-Adel C setzte der Stadt Berlin ein testamentarisches Legat aus.

Plot 2: Frau von Adel A (1853-1952) und Herr von Adel B (1848-1919) heirateten 1873; sie bekamen in der Folge zwei Kinder und wohnten für kurze Zeit am Lützowufer. Im Zuge eines beruflichen Wechsels nach D befreundeten sie sich mit einem Maler, Herrn Nicht-Adel C, an, mit dem Frau von Adel A ein Verhältnis begann. Nach der Rückkehr aus D wohnten Herr und Frau von Adel A und B für kurze Zeit im Blumeshof. Herr von Adel B entdeckte das Verhältnis seiner Frau und forderte ihn zu einem Duell, was verboten war. An seinen Verletzungen starb Herr C, und Herr von Adel B musste für kurze Zeit ins Gefängnis. Die Ehe wurde 1887 geschieden; er bekam das Sorgerecht für beide Kinder, sie wurde berufstätig und lebte ein langes Leben an einem anderen Ort.

Plot 3: Frau Nicht-Adel B (1904-2007) heiratete 1939 Herrn von Adel A (1904-1944); sie hatte 1929 ihr Jurastudium mit der Promotion abgeschlossen. Sie wohnten zeitweilig am Lützowufer. Gemeinsam mit ihrem Mann engagierte sie sich im Widerstand gegen die Nationalsozialisten. Nach dem missglückten Attentat auf Hitler 1944 wurde ihr Mann hingerichtet, sie kam für 3 Monate in Sippenhaft. Nach dem Krieg wurde sie Richterin am Jugendgericht und galt als (zu) streng. Sie lebte nach 1952 bis zu ihrem Tod unverheiratet mit Herrn Nicht-Adel C (1907-1996) zusammen.

Vermutlich ahnen oder wissen Sie es: Der zweite Plot eignet sich besser für ein Buch, er enthält einige dramatische Momente, die den anderen beiden Geschichten fehlen, z.B. das verbotene Duell, bei dem der Liebhaber stirbt; in der ersten Geschichte bleibt der Liebhaber/Ehemann eine eher undurchsichtige Figur, was einem Happy End entgegensteht, und die dritte Geschichte ist einfach nur tragisch. Im Folgenden berichten wir nur die erste Geschichte, weil sie weitgehend unbekannt ist. Sie enthält auch allerlei neue Informationen, die man nirgendwo nachlesen kann. Plot 2 (über Elisabeth von Ardenne, Fontanes Effi Briest) und 3 (über Marion Yorck von Wartenburg) folgen dann zu einem anderen Zeitpunkt.

Der vermeintlich schottische Baron

Rudolph George Killmar, oder KillMar oder Kill-Mar, wie er sich nannte oder schrieb, war weder schottisch noch von Adel, sondern war am 8.1.1801 geboren worden, nach den Angaben auf seiner Sterbeurkunde in Königsberg (Ostpreußen), als Sohn des dortigen Predigers Franz Georg Viktor Killmar und dessen Ehefrau Wilhelmine Rebekka, geb. Augar. Sein Vater war im August 1757 in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) zur Welt gekommen, hatte in Halle Theologie studiert und seine erste Anstellung am Waisenhaus in Königsberg erhalten. Dort hatte er im März 1792 in der Judittenkirche Rebekka Wilhelmine Augar, die Tochter eines anderen dortigen Pfarrers, geheiratet – da war er bereits Prediger in Soldau, einem Vorort von Königsberg. Seine berufliche Karriere wird anlässlich seines 50-jährigen Dienstjubiläums 1831 wie folgt gelistet: Seit 1781 (mit 24 Jahren) Lehrer am Waisenhaus in Königsberg, Prediger in Soldau ab 1791, Garnisonspfarrer in Goldap 1800 bis 1802, und Pfarrer in Nassenhuben (heute Mokry Dwor, Polen) bei Danzig ab August 1802; „ging 9.7.1815, da die Gegend durch Überschwemmung und Krieg sehr gelitten hatte, nach Pasewalk“ (40 km östlich von Stettin); hier beendete er seine berufliche Tätigkeit 1837, anlässlich dessen er mit dem Preußischen Roten Adlerorden 4. Klasse geehrt wurde (2).

George und seine (drei) Schwestern, über die wir so gut wie nichts wissen, wuchsen also in der ost- und westpreußischen Provinz auf; da mag es den Jungen früh zum Militär gezogen haben. Wir finden ihn das erste Mal in Berlin 1831 (da war er 30 Jahre alt), wohnte mit wechselnden Adressen (St. Georgen Kirchgasse, Wilhelmstraße, Tiergartenstraße) und arbeitete für das königliche Ober-Bau Deputat, war Ingenieur, Leutnant a.D. (außer Diensten) und „technischer Gehülfe für Zeichnen und Rechnungsarbeiten“, führte Messungen auf dem Dach der neuen Universität aus (1837) (Bild 2A), und wurde als Bau-Conducteur oder Bauinspektor bezeichnet.

2: Links: Tätigkeit des George Kill-Mar für die Baukommission 1837; rechts: Adressbuch-Einträge der Caroline von Hertell 1837, und des George Killmar 1839 bis 1844 (Quellen: Notiz-Blatt des Architekten-Vereins zu Berlin. Jg. 1838. Verlag von Ferdinand Riegel. Potsdam 1839, S. 35; Adressbücher von Berlin der jeweiligen Jahre; alles Public Domain in der ZLB)

1839 wohnte er im Lützower Feld 1 („hinter dem Hofjäger“), was einige Jahre später zum „auf Birkwäldchen“ und zum „Kill-Marschen Besitz“ wurde, mit einem eindrucksvollen Wohnhaus (s. Bild 1). Das Verwaltungshandbuch berichtete 1850, dass er zwischen Dezember 1848 und August 1849 in den Ruhestand getreten war – da war er gerade 48 Jahre alt. Offenbar hatten ihm die 15 Jahre Erfahrung im Bauwesen der Stadt gereicht, sich ins Bodenspekulationsgeschäft einzuarbeiten: der Kauf des Birkwäldchens zu diesem frühen Zeitpunkt war ein echter Glücksgriff, wie wir sehen werden, vielleicht auch, gerade weil das Birkwäldchen zu Charlottenburg gehörte und nicht zu Berlin.

Er hatte um 1835 herum ein Verhältnis mit einer (noch) verheirateten adligen Frau begonnen, was man seinerzeit eine „skandalöse Beziehung“ nannte. Aber: Bevor er sie heiraten konnte (1838), hatte er seinen obersten Dienstvorgesetzten, den Minister für geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Karl vom Stein zum Altenstein (1770-1840) um Erlaubnis gefragt (Bild 3) – das musste er als Angestellter der königlichen Baubehörde – und diese ohne Umschweife bekommen: so skandalös, wie diese Beziehung in Teilen der Familie beurteilt wurde (3), kann sie also nicht gewesen sein. Und sein Vater hatte die Trauung in der Sophienkirche zu Berlin selbst vorgenommen.

3: Kommentierter Antrag des George Killmar auf Genehmigung der Heirat (Heirats-Consens) mit Karoline von Hertell an seinen obersten Dienstvorgesetzten, Minister Carl vom Stein zum Altenstein. (Quelle: Akte im Geheimen Staatsarchiv Berlin, I HA Rep. 76, I, Sekt. 30 Nr. 237)

Caroline Marie Auguste von Blücher, geborene von Hertell (1798-1859) war die älteste Tochter des Hofjägermeister Karl A. Hermann von Hertell aus Vorpommern und seiner Gemahlin, eine Adoptivtochter des Landschaftsdirektors von Behr; alles eher „kleiner Adel“, aber immerhin uralt (bis zurück ins 12. Jahrhundert). Die von Blüchers waren eine Nummer größer: Karl Wilhelm, geboren zu Sukow (heute Suckow, Mecklenburg-Vorpommern) am 21. April 1794, war der neunte Sohn des Rittmeisters Karl von Blücher, der in den Befreiungskriegen gegen Napoleon gekämpft hatte, dem der kleine Adel von Hertell „seine Tochter zur Gemahlin überließ“ und das Gut Poggelow (in der Mecklenburgischen Schweiz) als Mitgift obendrein (1819). Zwischen 1819 und 1834 bekam das Paar sieben Kinder, von denen zwei vor Erreichen des 13. Lebensjahres starben. Das Gut Poggelow ging aber pleite, so dass sich die Familie nach Berlin absetzte (1829: Kaiserstraße 32a; 1833: Münzstraße 16, im Sommer: Tiergartenstraße 18). Im Originalton der Familienlegende (4): „Der Rittmeister war ein Mann von Einsicht und unbegrenzter Herzensgüte, aber es mangelte ihm an ausdauernder Tatkraft … auch seine ehelichen Verhältnisse wurden, als jetzt in Berlin, wo er seinen Wohnsitz nahm, schwere Zeiten hereinbrachen, so unglücklich, daß er sich 1834 von seiner Gemahlin trennte und später von ihr geschieden ward … Den unaufhörlichen Widerwärtigkeiten und Sorgen, welche ihn bedrängten, vermochte er nicht länger zu widerstehen; er versank in Missmut und Verzweiflung, welche dann in der Nacht vom 20/21. Februar 1840 sein trauriges Ende herbeiführte“ – alles klar? Hätte er an dieser Stelle den vermeintlichen schottischen Baron stattdessen zum Duell gefordert und wäre dabei verstorben – oder der Baron -, es hätte ein Roman werden können. So starb er einsam in Luckau in der Niederlausitz, wo er sich „in der großen Schanze vor dem Sandower Vorstadtthore“ erschoss – Er „hinterl. mehrere minoreren Kinder welche von seiner separierten Ehegemahlin in Berlin erzogen werden“, heißt es im Kirchenbucheintrag.

Caroline wohnte 1837 in Berlin (Schiffbauer Damm 30), als Caroline von Blücher, geb. von Hertell, und ist als Witwe im Adressbuch eingetragen (was sie ja noch nicht war) (Bild 2B), eine Art Selbstschutz vor und nach der Scheidung (das haben wir öfter gesehen). Das Ehepaar hatte sich bereits 1834 getrennt (4), sie wurden am 25. April 1837 geschieden (da wohnte er in Soldin in der Neumark, auf der anderen Oder-Seite), und Caroline heiratete George Kill-Mar am 27. April 1838 in der Sophienkirche in Berlin. Im Kirchenbucheintrag wird er als „brittischer Edelmann“ bezeichnet – möglicherweise kommt daher die Mär vom schottischen Adligen, wobei es natürlich besser zur Genealogie einer Adelsfamilie passt, wenn auch der Liebhaber standesgemäß ist. „Ehen zur Linken“ (wie standes-unterschiedliche Ehen genannt wurden) bargen immer das Risiko des sozialen Abstiegs, wenn die Frau adlig war – heiratete ein adliger Mann „zur Linken“, bedeutete dies in der Regel sozialen Aufstieg für die Frau, solange sie verheiratet blieb. Caroline hätte also durch diese Heirat ihren Adelstitel verloren, wäre er von minderem Stand, deswegen diese Aufwertung mit einem fiktiven Status – Edelmann ist kein geschützter Titel. Aber wäre sie „schuldig“ geschieden worden, hätte sie gemäß dem Preußischen Landrecht den Verursacher der Scheidung gar nicht heiraten dürfen – also hatte ihr Ex wohl die Schuld am Scheitern der Ehe auf sich genommen. Und entgegen unseren ersten Annahmen einer skandalträchtigen, sozial isolierenden Liäson waren bei der Geburt von zwei Kindern der neuen Ehe (1839 und 1842) Angehörige aller beteiligten Familien einschließlich der Familie von Blücher Taufpaten!

Wir wüssten wenig über den weiteren Lebensweg der Familie, hätte nicht der älteste Sohn Felix den Entschluss gefasst, nach Amerika auszuwandern. Anton Felix von Blücher (1819-1879) hatte Jura studiert, es drängte ihn aber, etwas Handfesteres zu machen, daher wanderte er im Juni 1849 nach Texas aus – er war schon 1845 bis 1847 dort gewesen (5) – und wurde Importeur/Exporteur und Immobilienmakler. Es gibt noch eine zweite Version, wonach er das Land verlassen musste, weil er mit radikalen Positionen in der 1848er Revolution aufgefallen war (5). Woher ich das weiß? Felix heiratete am 10. März 1849 die 18-jährige Maria Augusta Imme (1827-1893) aus Berlin, und die emigrierte im April des gleichen Jahres mit ihm nach Texas. Maria wiederum schrieb regelmäßig zwischen 1849 und 1879 Briefe nach Hause an ihre Mutter bzw. ihre Eltern, insgesamt 229 mit mehr als 900 Seiten. Ihre Tochter Julia von Blücher (1853-1937) nahm diese Briefe nach einem Deutschlandbesuch 1880 mit zurück nach Texas, und so landeten sie schlussendlich im Nachlass der Familie Blücher („The Texan Bluchers“) in der Mary and Jeff Bell Library, Texas A&M University, Corpus Christi, Texas, die daraus, nach Übersetzung ins Englische, ein Buch über die Frühzeit deutscher Einwanderung in Texas machte und publizierte – 2002! Diesem Buch (3) verdanke ich einige Details, z.B. dass der vermeintliche Baron das Birkwäldchen für 600.000 Taler verkauft hatte, und die einzige Abbildung des Cottage Caroline (s. Bild 1). Nach Kontaktaufnahme mit dem Archiv werden dort zurzeit die Briefe der Mutter an ihre Tochter gesucht – da wartet mit Sicherheit ein neues Projekt, ich komme darauf zurück.

 

Literatur

  1. Kulturamt Tiergarten, Hg. Frauengeschichte(n) aus Tiergarten 1850-1950. Weidler Verlag, Berlin 1999.
  2. Das „Zwischenmanuskript“ zum Altpreußischen evangelisches Pfarrerbuch. Band 3, bearb. von Walther Müller-Dultz u.a. im Auftrag des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen. Selbstverlag, Hamburg 2013
  3. Bruce S. Cheeseman, Ed. Maria von Blücher´s Corpus Christi. Letters from the South Texas Frontier, 1849-1879. Texas A&M University Press, Corpus Christi 2002.
  4. Friedrich Wigger. Geschichte der Familie Blücher. 2 Bände. Stillersche Hofbuchandlung, Schwerin 1878
  5. Lebrecht von Blücher. The Texan Bluchers. Anton Felix von Blücher (1819-1879), a Texan Pioneer of Corpus Christi, and his Descendents. von Blücher Verlag, Merzhausen 2005

 

 

 

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für Ihre immer interessanten, zuweilen bewegenden ‚Ausgrabungen‘, die ich immer gern lese. Ich hoffe natürlich auch auf zusätzliche Erkenntnisse zur Kluckstraße (besonders: Nr. 29) (außer denen, die Sie schon publiziert habe) und ihre Bewohner:inner wie den Dadaisten Walter Mehring oder (vermutlich wohnte auch sie dort) Renée Sintenis.
    Bonne continuation – histoire à suivre!

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