Spaziergang in die Vergangenheit (32): Tatort Blumeshof 17, 12. Mai 1932

Diese Geschichte könnte auch den Titel tragen: „Der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand„, und sie hätte sicherlich ein traurigeres Ende gehabt, wäre sie nur ein Jahr später passiert.

Den „Tatort“, das Flugverbandhaus im Blumeshof 17, hatten wir schon mal besichtigt (mittendran am 15. Juli 2021) (Bild 1), wenngleich wir es damals nicht betreten hatten: Es wurde 1911/12 gebaut von Architekt Heino Schmieden (1835-1913) als „Vereinshaus der Berliner Rechtsanwaltschaft G.m.b.H.“. Im Erdgeschoss waren Läden sowie ein öffentliches Restaurant untergebracht, der Keller beherbergte eine Kegelbahn. Der Hauptteil des Hauses wurde durch den großen Saal, einem Vorsaal und weiteren stattlichen Nebenräumen gebildet. Weiterhin gab es Klubräume, Büroräume, einen Verhandlungssaal sowie Wohnräume für Wirt und Personal. 1918 pachtete der Verband Deutscher Flugzeug-Industrieller das gesamte Anwaltshaus und der Kaiserliche Aero-Club mietete das erste Geschoss unter Mitbenutzungsrecht des großen Saales (Bild 2 und 3). In dem prächtig ausgestatteten und technisch durchdachten Gebäude kamen regelmäßig Größen der Wirtschaft und Politik zusammen. Im Jahr 1926 wurde das Haus erweitert um eine obere Etage durch Architekt Otto Firle (1889-1966).

Bild 1: Flugverbandshaus, bis 1917 Haus des Vereins der Rechtsanwälte, Blumeshof 17 Ecke Schöneberger Ufer (Quelle: Postkarte um 1920, Fotograf unbekannt, gemeinfrei)

Bild 2: Vortragsaal, auch genutzt als Ballsaal im Flugverbandshaus um 1918 (Quelle: Handbuch des Kaiserlichen Aero-Clubs 1918, Fotograf unbekannt, gemeinfrei).

Hier traf sich am 12. Mai 1932 Freiherr Egloff von Freyberg-Eisenberg-Allmerdingen (1883-1984) (1), Major a.D., der seit dem 1. April 1930 zum Reichswehrministerium kommandiert worden war und dort die geheime Ausbildung der Flugzeugführer überwachte, zu einem Mittagstisch im AERO-Club mit anderen Clubmitgliedern. Teilnehmer der Tafelrunde waren:

Hauptmann a.D. Bruno Loerzer (1891-1960): Freund und Vertrauter Hermann Görings, Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, Kommandeur eines Jagdgeschwaders, nach 1918 Freikorps-Mitglied, im Juni 1929 Aufsichtsratsmitglied der Deutschen Luft Hansa als NSDAP-Vertreter, was seine weitere Karriere im Nationalsozialismus beförderte.

Rittmeister a.D. Carl Bolle (1893-1955): Enkel des Berliner Unternehmers Carl Bolle („Bimmel-Bolle, siehe mittendran vom 18. Oktober 2023), Leutnant der Preußischen Armee bis 1916, dann Jagdflieger-Ausbildung und Staffelführer bis Kriegsende, als Rittmeister 1929 entlassen, Vorstandsmitglied der Deutschen Verkehrsflieger-Schule.

Admiral a.D. Rudolf Lahs (1880-1954): Ab 1899 Seekadett, machte Karriere in der Kaiserlichen Marine bis zum Korvettenkapitän (1917), zum Fregattenkapitän (1923) und schließlich zur Marineleitung (1927) mit Schwerpunkt Seefliegerei; als Konteradmiral 1929 ausgeschieden und in die private Luftfahrt-Industrie gewechselt.

Hauptmann a.D. Friedrich Wilhelm Siebel (1891-1954): Pilot und Maschinenbauer mit Ambitionen zum Auto- und Flugzeugbau, Mitarbeiter bei der Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) und Gesellschafter einer Leichtflugzeugbau-Gesellschaft (1927).

Hauptmann a.D. Otto Wilatz (1880-1966): Studium des Hochbaus an den Technischen Hochschulen Braunschweig und München, Reserveoffizier, Regierungsbaumeister, 1913 bis 1929 Geschäftsführer der Zeppelin-Hallenbau GmbH Berlin, ab 1923 Leiter der Vertretung der Dornier-Metallbauten GmbH in Berlin.

Bild 3: Arbeitsraum/Lesesaal im Flugverbandshaus um 1918 (Quelle: Handbuch des Kaiserlichen Aero-Clubs 1918, Fotograf unbekannt, gemeinfrei).

Während des Essens bemerkte Freiherr von Freyberg „die Rede Görings im Reichstag war glatter Landesverrat. Ich kann Göring nicht mehr als Ehrenmann bezeichnen“ (2).

Dies bezog sich auf Hermann Göring (1893-1946), der im Ersten Weltkrieg als Jagdflieger begann und als Kommandeur des Jagdgeschwaders 1 („Richthofens fliegender Zirkus„) endete. 1920 reichte er seinen Rücktritt von der Reichswehr ein, schloss sich aber 1923 der paramilitärischen Organisation „Sturmabteilung“ (SA) der NSDAP an und reorganisierte sie als Kommandeur; er war maßgeblich am Hitler-Putsch von 1923 beteiligt, floh nach Österreich und Schweden, und kam nach einer Amnestie für politische Straftäter 1925 wieder nach Deutschland. Mit der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 wurde er einer von zwölf Reichstagsabgeordneten der NSDAP und 1930 von Hitler, der noch in München wohnte, zum politischen Beauftragten in der Reichshauptstadt ernannt. Göring versuchte, die nationalsozialistische Bewegung in der besseren Gesellschaft hoffähig zu machen (3).

Von Freybergs Kommentar bezog sich auf eine längere Rede, die Göring zwei Tage zuvor, am 10. Mai 1932, im Reichstag gehalten hatte (4). Es ist aus heutiger Sicht nicht leicht nachzuvollziehen, was genau den Freiherrn von Freyberg veranlasst haben mag, Görings Ausführungen als Landesverrat zu bezeichnen und ihm den Status eines Ehrenmannes abzusprechen: Ob es seine Ausführungen zum Verbot der paramilitärischen SA im April 1932 war, deren Zahl der Mitglieder im Dezember 1931  bei 260.000 lag und die damit die Mannschaftsstärke der Reichswehr überflügelte. Die Regierung Brüning folgte mit dem Verbot einer internationalen Vereinbarung der Genfer Abrüstungskonferenz vom Februar 1932. Oder ob es die nachfolgende, durch Göring provozierte und gänzlich verunglückte Rede (4) des parteilosen Reichswehr- und Innenministers Wilhelm Groener (1867-1939) war. In dieser Rede mäandert Groener zwischen Rechtfertigung des SA-Verbot einerseits und der Begründung, warum das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ nicht zu verbieten sei; dies war die mit 3 Millionen Mitgliedern größte demokratische Massenorganisation der Weimarer Republik, eine Vereinigung republikanischer Kriegsteilnehmer durch eine Initiative aus den drei Parteien der sog. Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP (= Deutsche Demokratische Partei) (5). Infolge der Proteste gegen sein hilfloses Argumentieren trat Groener zwei Tage später (12. Mai) zurück und damit das gesamte Kabinett von Reichskanzler Heinrich Brüning (1885-1970); und dies könnte das Ziel von Görings Attacke und Anlass für von Freybergs Ärger gewesen sein. Bei den nunmehr erforderlichen Neuwahlen (Juli 1932) erhöhten die Nationalsozialisten die Anzahl ihrer Mandate im Reichstag von 107 (bei der Wahl im September 1930) auf 230.

Bild 4: Restaurant im Flugverbandshaus um 1918 (Quelle: Handbuch des Kaiserlichen Aero-Clubs 1918, Fotograf unbekannt, gemeinfrei).

An diesem 12. Mai war nämlich Hermann Göring im Aero-Club anwesend, wenngleich er nicht an besagtem Mittagstisch teilgenommen hatte. Dort hörte er obige Aussage über seinen Landesverrat und Ehrverlust. Da wir nicht wissen, wo genau dieses Mittagessen im Aero-Club stattfand und wie die Sitzordnung war (Bild 4 und 5), wissen wir nicht, ob Göring dies am Nebentisch zufällig hörte, ob er auf dem Weg zum Klo in die Nähe der Herrschaften kam und lauschte oder ob dies etwa so laut gesagt wurde, dass er es in jeden Fall hören musste. Und wenn er es nicht selbst gehört hatte, dann hat vielleicht sein am Tisch sitzender Kriegskamerad und Freund Bruno Loerzer getratscht, der ihm seine weitere Karriere im „Dritten Reich“ verdankte.

Bild 5: Restaurant im Flugverbandshaus. Gegenüber Bild 4 ist diese Aufnahme später gemacht worden, wie man an der Gestaltung von Nischen sieht (Quelle: Postkarte um 1930, Fotograf unbekannt, gemeinfrei).

Nach dem Essen jedenfalls kontaktierte Göring seinen Rechtsanwalt, Dr. jur. Frank Strack II in München (!), und der stellte mit Datum vom 14. Mai 1932 Antrag auf Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Beleidigung bei der zuständigen Staatsanwaltschaft am Landgericht in Berlin, verbunden mit der Bitte, „die Vorschriften über das Schnellverfahren und insbesondere auch die Vorschriften über den gesteigerten Ehrenschutz der im öffentlichen Leben stehenden Personen zur Anwendung zu bringen“ (2). So weit, so schlecht.

Wenn man die Parlamentsdebatten dieser Tage liest, bleibt der Eindruck: Es geht den Nationalsozialisten vor allem um größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit im Vorfeld von Wahlen, der NSDAP für die Wahlen im Juli 1932 ebenso wie der AfD heute – Aufmerksamkeit um jeden Preis, lautstark und pöbelhaft, und immer möglichst in der Opferrolle!

In der Beleidigungsangelegenheit beschied der Oberstaatsanwalt beim Landgericht II Berlin am 14. Juni 1932, also noch vor den Reichstagswahlen: „Wie sich aus der von Ihnen, Herr Rechtsanwalt, erstatteten Anzeige ergibt, ist die beleidigende Äußerung des Beschuldigten in einem kleinen durch persönliche Beziehungen miteinander verbundenen Personenkreise und gelegentlich eines Tischgesprächs gefallen. Bei dieser Sachlage scheint die Möglichkeit, ein öffentliches Interesse an Erhebung der öffentlichen Klage anzunehmen, nicht gegeben. Der Herr Antragsteller wird deshalb seine Rechte im Wege der Privatklage zur Geltung bringen müssen“ (2). Zu dieser Privatklage ist es offensichtlich nicht gekommen, da der Freiherr von Freyberg bis zum Herbst 1943 seine militärische Karriere fortsetzte, auch innerhalb des Reichsluftfahrtministeriums, das nach 1933 Hermann Göring unterstand. Aber wie eingangs gesagt: Ein Jahr später, nach der Machtergreifung der Nazis, hätte diese Angelegenheit sicherlich kein gutes Ende genommen.

Literatur

  1. Mit Ausnahme von Otto Milatz sind alle biografischen Informationen der Personen bei Wikipedia zu finden. Zu Otto Milatz siehe: Roland Fuhrmann: Dresdens Tor zum Himmel. THELEM Universitätsverlag, Dresden 2019, Seite 485.
  2. Akte im Landesarchiv Berlin: Pr. Br. Rep. 57 Nr. 647 (Staatsanwaltschaft beim Landgericht 1)
  3. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Göring
  4. Reichstagsprotokolle, Bd. 446, S. 2536-2545 (62. Sitzung, 10. Mai 1932)
  5. Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbanner_Schwarz-Rot-Gold

Paul Enck

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