Interview für das Kiezmagazin mittendran
Gespräch mit Sascha Ruß, Leiter der Kita Sonnenschein in der Pohlstraße
Frage: Herr Ruß, Sie leiten seit fast zehn Jahren die Kita Sonnenschein. Wie erleben Sie den Kiez in dieser Zeit?
Sascha Ruß: Tiergarten-Süd hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Der Stadtteil zeigt ein hohes Maß an sozialen Kontrasten: Alteingesessene Familien treffen auf viele Neuzuzüge mit ganz unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen und Vorstellungen. Diese Vielfalt macht den Kiez spannend, bringt aber auch Herausforderungen mit sich, besonders bei Wohnraum. Familien zum Beispiel mit mehreren Kindern finden kaum noch bezahlbare größere Wohnungen und müssen oft in zu engen Verhältnissen bleiben, weil es einfach keine sozialräumlichen Alternativen gibt.
Frage: In den Sozialdaten wird von zunehmender sozialer Spaltung gesprochen. Wie zeigt sich das vor Ort?
Sascha Ruß: Das spiegelt sich im Kita-Alltag deutlich wider. Wir haben Menschen mit sehr hohem Einkommen und Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, und Menschen, die weitgehend aus dem gesellschaftlichen System herausfallen. Diese Unterschiede prägen das Zusammenleben und machen deutlich, wie wichtig gegenseitige Aufmerksamkeit und Solidarität sind. Gleichzeitig sehe ich, dass vieles übersehen oder verdrängt wird, etwa die Situation wohnungsloser Menschen im Umfeld des Magdeburger Platzes, aber auch im Zusammenhang mit adäquaten Wohnverhältnissen für Kinder und ihre Familien.
Frage: Wie wirkt sich das auf die Arbeit Ihrer Kita aus?
Sascha Ruß: Unsere Kita spiegelt einen Teil der Vielfalt und der sozialen Kontraste im Stadtbezirk wider, wie wir sie im Alltag beobachten. Kinder und Familien aus sehr unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten treffen hier aufeinander. Dabei wird sichtbar, wie viel wir voneinander lernen können und wo Begegnung und Teilhabe im Kiez noch stärker gefördert werden können. Integration, Bildungschancen und soziale Unterschiede sind für uns zentrale Themen der pädagogischen Arbeit und lassen sich hier anschaulich beobachten.
Mit rund 140 Kindern wird die Vielfalt im Stadtteil spürbar – etwa in der Sprachenvielfalt, in unterschiedlichen familiären Hintergründen oder in besonderen Lebenssituationen der Familien, die wir begleiten. Unsere heilpädagogische Gruppe ist ein deutliches Beispiel dafür, wie Teilhabe und individuelle Förderung gelingen können. Teilhabe und Begegnung ziehen sich jedoch nicht nur durch diese Gruppe, sondern durch den gesamten Kita-Alltag und geben Einblick in die sozialen Dynamiken von Tiergarten-Süd.
Besonders herausfordernd ist es, Familien mit internationalen Bezügen, häufig mit Einwanderungsgeschichte, darin zu unterstützen, über ihre gewohnten Strukturen hinaus soziale Kontakte zu knüpfen. Dabei entstehen eigene soziale Räume, die sich von den stärker sozioökonomisch gesicherten und oft als privilegiert wahrgenommenen Milieus unterscheiden. Soziale Teilhabe als Ganzes bedeutet für unser Angebot, Brücken zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten zu bauen.
Frage: Gibt es im Kiez ausreichend Angebote für Kinder und Familien?
Sascha Ruß: Grundsätzlich ja. Es gibt viele engagierte Einrichtungen wie das Familienzentrum Villa Lützow, die Bibliothek Tiergarten Süd oder die Angebote der Bildungsbotschafter. Auch ehrenamtliche Initiativen, wie die Spielstraße in der Pohlstraße, bereichern den Kiez. Gleichzeitig beobachten wir, dass nicht alle Angebote von den Familien genutzt werden, die besonders davon profitieren könnten. Oft hängen diese Entscheidungen mit Alltagsbelastungen, Sprachbarrieren oder fehlender Information zusammen.
Frage: Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Kiezes?
Sascha Ruß: Ich wünsche mir, dass Tiergarten-Süd ein Ort bleibt, an dem Vielfalt als Stärke verstanden wird. Begegnungsräume sind dafür essentiell, Orte, in denen Unterschiede nicht als Trennlinien, sondern als Bereicherung erlebt werden. Besonders wichtig ist der Dialog zwischen den Generationen und Kulturen. Wenn wir es schaffen, Verantwortung füreinander wieder stärker wahrzunehmen, wird der Kiez nachhaltig lebenswert bleiben.
Frage: Trotz der Herausforderungen – was stimmt Sie positiv?
Sascha Ruß: Viele Menschen engagieren sich ehrenamtlich, nachbarschaftlich oder in sozialen Projekten. Dieses Engagement prägt die Lebensqualität im Kiez entscheidend. Wenn es gelingt, diese Kräfte sichtbar zu machen und zu bündeln, kann aus der Vielfalt echte Stärke für den Sozialraum Tiergarten-Süd entstehen.
Persönliches Zitat zum Schluss:
„Vielfalt ist keine Herausforderung, die wir alleine bewältigen müssen – sie ist eine Chance, voneinander zu lernen und den Sozialraum gemeinsam mit allen hier lebenden Menschen sichtbar zu machen.”
Die Fragen stellte Friederike Pohlmann, Redaktion mittendran

Sascha Ruß auf dem Balkon der Kita Sonnenschein

Wer hat denn das Interview geführt?
Friederike Pohlmann