Spaziergang in die Vergangenheit (34): Potsdamer Str. 96 (Teil 3)

Das Quartier Latin, das wir beim letzten Mal besucht haben (mittendran vom 10. Oktober 2025), hatte im vorderen Teil des Gebäudes eine Gaststätte, wie Bilder zeigen (1). Dahinter war, wie es sich für eine Konzerthalle gehört, ein Saal mit Bühne und Platz für ein paar hundert Leute. Und diese Anlage war natürlich in den 70er Jahren nicht von den und für die Betreiber des Quartier Latin gebaut worden, sondern diese hatten die Räumlichkeiten 1970 vorgefunden und umgebaut. Was war also hier, bevor das Quartier Latin einzog?

Veilchen am Potsdamer Platz: Gaststätte und Ballsaal

Ein Teil der folgenden Informationen stammt aus dem Buch von Marco Saß und Henry Steinhau (1). Die Vorgeschichte des Quartier Latin kennen sie nicht nur vom Hörensagen, sie kennen sie aber vor allem, weil sie die Bauakte eingesehen haben, andere Akten, und vor allem weil sie Zeitzeugen befragt haben. Das Buch ist eine Fundgrube und hat sicherlich viele Jahre Arbeit gekostet.

Der Eingang zum Veilchen sieht so aus, wie man sich einen Kinoeingang in den 60er Jahre vorstellen muss (Bild 1), und das war es schließlich auch noch, als Johann Mews aus Berlin das leerstehende Kino übernahm, um hier einen Ballsaal in der Tradition von Clärchens Ballhaus in Mitte einzurichten.

Bild 1: Eingang zum Ballhaus und Café (Foto vom 14. November 1968; Fotograf Willi Huschke, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (3) Nr 0354149 mit freundlicher Geneehmigung)

Über den Likörfabrikanten ist wirklich nur sehr schwer überhaupt etwas herauszubekommen: Johann Mews gibt es im Telefonbuch und im Branchenbuch von Berlin seit 1954: In diesem Jahr fabrizierte Johann Mews im Wedding (Reinickendorfer Straße 17) Likör, und er ist mit einer weiteren Adressen in Charlottenburg (Goethestraße 34) im Telefonbuch vertreten; 1955 sind daraus zwei Charlottenburger Adressen geworden (Kantstraße 22, Insterburgallee 18a), und 1956 (aber nur in diesem Jahr) taucht außerdem eine Jutta Mews auf, die in Friedenau ein Wein- und Spirituosengeschäft betreibt (Bild 2) – Verwandtschaftsverhältnis unbekannt. Ältere Daten finden sich nicht, vor dem Krieg gab es zwar viele Haushaltsvorstände mit den Namen Mews, ein Johann Mews war aber nicht darunter. Der Likörhandel von Johann Mews blieb im Telefonbuch Berlins bis 1972, ab 1967 in der Biesetalerstraße 21 in Gesundbrunnen, danach ist er nicht mehr nachweisbar. Damit müssen wir uns im Moment begnügen; es ist aber unzureichend, um zu erklären, warum ein Likörfabrikant aus dem Berliner Norden einen Kinosaal an der Potsdamer Straße in einen Ballsaal umbauen ließ.

Bild 2: Telefonbucheinträge.

Veilchen-Verkauf am Potsdamer Platz

Weniger geheimnisvoll ist die Herkunft des Namens, auch wenn der Potsdamer Platz mehr als einen Kilometer entfernt ist. Einen ersten Hinweis gibt uns ein Foto aus dem Landesarchiv, aufgenommen von Willi Huschke im Foyer des Ballhauses (Bild 3): Es zeigt, hinter einem Leierkastenmann, ein vergrößertes Foto – vermutlich einer Bildpostkarte – mit zwei Blumenverkäuferinnen (Bild 4). Dieses Foto ist am Potsdamer Platz aufgenommen, im Hintergrund hinter der Straßenbahn sehen wir eines der beiden Torhäuschen des Potsdamer Tores von Karl Friedrich Schinkel (1711-1841) von 1824, die dort bis zur Bombardierung 1944 standen. Vergleicht man dieses Foto mit anderen Aufnahmen des Platzes und seiner Umgebung, insbesondere mit Luftaufnahmen, kann man das gezeigte Torhaus als das südliche der zwei identifizieren.

Bild 3: Aufnahme aus dem Foyer des Cafés Veilchen am Potsdamer Platz (Foto vom 14. November 1968, Fotograf Willi Huschke, Landesarchiv Berlin, F Rep. 290 (3) Nr 0354154 mit freundlicher Genehmigung)

Bild 4: Blumenmädchen am Potsdamer Platz, vermutlich eine vergrößerte Bildpostkarte, Ausschnitt aus Bild 3).

Die Aufnahme stammt, so sagt die Überschrift, aus der Zeit um 1930. Wir können zwar nicht erkennen, welche Blumen die beiden verkaufen, Veilchenverkäufe an der Leipziger Straße hatten eine lange Tradition: „Die ganze Nordseite des großen (Dönhoff-)Platzes längs der belebten Leipziger Straße war früher den Gärtnern und Blumenhändlern eingeräumt, die hier ihre … Ware feilboten …und Blumenmädchen mit Körben am Arme boten dem Vorübergehenden ihre zierlichen Maiglöckchen, ihre sanftduftenden Veilchen- oder Rosensträußchen zum Kaufe dar“ (2) (Bild 5).

Bild 5: Bild aus der Zeitschrift „Die Gartenlaube“ von 1893 (2).

Das Veilchen vom Potsdamer Platz: Der Film

Möglicherweise war Johann Mews zu jung, um sich an Veilchen-Verkäuferinnen auf dem Potsdamer Platz zu erinnern; vielleicht hat er sich aber an einen Film mit diesem Titel erinnert, der 1936 in die Kinos kam und sicherlich auch von vielen Kindern gesehen wurde. Der Inhalt ist schnell erzählt, eine typische „Schnulze“ aus den Dreißigerjahren:

Roßschlächter Knallkopp, Hauswirt des Berliner Droschkenkutschers Pietsch, will dem Kutscher wegen hoher Mietschulden seinen alten Gaul wegnehmen, um mit dem Schlachterlös des Pferdes an sein Geld zu kommen. Nur Mariechen, die Blumenverkäuferin vom Potsdamer Platz versucht, Geld aufzunehmen, um Pietsch zu helfen. Wenigstens findet sie einen Untermieter für ihn, der gleich zahlt. Der Untermieter, ein entlassener Knastbruder, gibt sich als Versicherungsdirektor aus und macht Knallkopp für fünftausend Mark Kaution zum Subdirektor. Als er sich jedoch an dessen Tochter Rosa heranmacht, gibt es Ärger mit deren Freund, einem Polizisten, der den Ganoven sofort wiedererkennt. Durch Mariechen kommt dann der ganze Schwindel heraus und Knallkopp wieder an sein Geld. Zum Dank erläßt er Pietsch die Schulden, und der Gaul bleibt am Leben. (3)

Der Film war natürlich zeitgemäß, d.h. eingebunden in die nationalsozialistische Ideologie, wenngleich dies nicht so richtig transparent ist. Reichspropagandaminister Goebbels mochte die Darstellerin, aber nicht so sehr den Film, wie er in seinem Tagebuch vom 22. November 1936 vermerkte: „gut gemeint, aber etwas zu gewollt. Die Rotraut Richter spielt gut.“ (4). Bekannt geworden durch diesen Film ist die Hauptdarstellerin, Rotraut Richter, damals 23 Jahre alt (Bild 6). Sie spielte, wie die Filmkritik bemerkte, eine kesse Berliner „Jöre mit Herz und Schnauze„, die danach eine ordentliche Filmkarriere hinlegte, bis in die Nachkriegszeit. Sie starb in einer Klinik in Schöneberg am 1. Oktober 1947 an den Komplikationen einer Blinddarmoperation. Dieser Film ist heute noch abrufbar (5), ebenso wie Tonaufnahmen der Hauptdarstellerin aus diesem und anderen Filmen (6).

Bild 6: Rotraut Richter als Blumenmädchen Mariechen (Standbild aus dem Film „Das Veilchen vom Potsdamer Platz“ (1936), Stiftung Deutsche Kinemathek, F 3222:03 mit freundlicher Genehmigung.

Zurück zum Ballsaal Veilchen am Potsdamer Platz

Nach allerlei bürokratischer Unbill – berechtigter, aber auch unberechtigter – seitens der Verwaltung beim Umbau eines Kinos in eine „Vergnügungsstätte“ eröffnete Mews das Ballhaus Veilchen am Potsdamer Platz Ende 1968 – um festzustellen, dass die Gegend in dieser Zeit kein Platz für gehobene Unterhaltung war: rundherum waren die Trümmer gerade erst weggeräumt (Bild 7), und „es machten sich zunehmend Rotlicht-Spelunken, Prostitution, Kleinkriminalität und Verwahrlosung breit“ (1). Im Juli 1970 schloss Mews seinen Ballsaal wieder, noch im gleichen Jahr wurde daraus das Quartier Latin.

Bild 7: Luftaufnahme der Potsdamer Straße zwischen Landwehrkanal (oben) und der Pohlstraße im Jahr 1969; rot markiert die Lage des Ballhaus „Veilchen am Potsdamer Platz“ (Foto: Geodata 1969_10_26_454_pan, gemeinfrei)

Literatur

  1. Marco Saß, Henry Steinhau: Quartier Latin. Berlins legendärer Musikladen 1970 – 1989. Berlin, L&H Verlag 2018.
  2. Die Gartenlaube Nr. 16 (1893), Seite 265 (Bild) und 276 (Zitat).
  3. https://www.filmportal.de/film/das-veilchen-vom-potsdamer-platz_dc709df695dd41fea27e7600dc9e71c4
  4. https://open.ifz-muenchen.de/entities/reihenband/2a762197-36c0-4745-be02-e4461afb0862
  5. https://www.rarefilmsandmore.com/das-veilchen-vom-potsdamer-platz-1936
  6. https://www.youtube.com/watch?v=hSBbaU4vTfA

Paul Enck

Ein Kommentar

  1. Really fascinating deep-dive into the history of Potsdamer Str. 96 — it’s amazing how many layers a single building can hold, from cinema to ballroom to the Quartier Latin. The connection to the flower sellers at Potsdamer Platz also gives the name “Veilchen” a lot more charm. I love seeing this kind of detailed archival work. Such hidden histories really bring the city to life.

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