Was war an der Potsdamer Straße 96, bevor hier 1992 der Wintergarten sein Dauerquartier bezog? Alteingesessene Kiezbewohner – zu denen der Autor sich leider nicht zählen kann – werden sich daran erinnern: hier war von 1970 bis 1989 das Quartier Latin. Dessen Eingang war allerdings wesentlich weniger glanzvoll (Bild 1), hier herrschte der Glamour mehr im Inneren.

Bild 1: Foto des Eingangs zum Quartier, dem Nachfolger des Quartier Latin, bevor es dann zum Wintergarten wurde (Aufnahme um 1990, Fotograf: Ulrich Winkler, aus: DDRBildarchiv, ID Nr. 32134 mit freundlicher Genehmigung).
Quartier Latin 1970 bis 1989
Es gibt ein dickes Buch über das Quartier Latin (1) (Bild 2), von Marco Saß, dem Sohn der letzten Besitzer, dem Ehepaar Christa und Manfred (Manne) Saß aus Hamburg, die das Haus 1970 von der Epicur GmbH übernahmen; Epicur hatte dem ehemaligen Kino den neuen Namen gegeben. Marco Saß und ein befreundeter Musikjournalist, Henry Steinhau, hatten dort offenbar ihre Jugend verbracht. Das Buch ist voll mit Bildern und Geschichten aus diesen Jahren von Leuten, die dabei gewesen sind. Der Tenor des Buches ist denn auch mehr ein „Boah ei, wat warn wir doch doll„, und „Manno, wen wir alles gekannt haben„, name-dropping vom Feinsten, mit vielen Fotos all der Sterne und Sternchen, die hier ein und aus gingen, Ton Steine Scherben, Die drei Tornados, Albert Mangelsdorff, Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer, die Puhdys, Die Ärzte, Wolfgang Niedecken, Nina Hagen – alle waren hier, viele starteten hier ihre Karriere: Rock, Pop, Jazz, Folk, aber auch Kabarett.

Bild 2: Buchtitel (1) mit Eintrittskarten zum Quartier Latin.
Hier fanden von 1970 bis 1989 fast 6.000 Einzelveranstaltungen statt, was bei einem Event am Tag stimmen könnte (17 x 365 = 6205 Tage), zumeist Konzerte, etliche mit Unterstützung des Kultursenats, der sogar einen eigenen Rock-Beauftragten hatte. Über die Anzahl der Konzerte schwanken die Angaben allerdings, im Buch sind ca. 4000 gelistet, an anderer Stelle sind es 2300 (2), es scheint keiner so recht zu wissen, aber das war der Zeitgeist: Wen interessierte schon die Vergangenheit, gelebt wurde im Jetzt. Da mag es 50 Jahre später schwierig sein, die Details aus Kindheits- und Jugenderinnerung zurückzuholen. Aber im den Auoren gerecht zu werden: Sie haben nicht nur Akten studiert, sondern jede Menge Zeitzeugen befragt.
Der vielleicht interessanteste Teil des Buches – für mich – versteckt sich an dessen Ende, die Seiten 266-326 berichten über die Geschichte des Hauses, bevor es 1970 zum Quartier Latin wurde, und jemand hat sich tatsächlich die Mühe gemacht, die Bauakte aufzutreiben und auszuwerten, und nicht nur diese Akte. Das ist nicht selbstverständlich, da das Haus den Krieg überlebt hat, die Bauakte daher nicht im Landesarchiv gelandet ist, sondern im Bauaktenarchiv Berlin-Mitte, und dort nur einsehbar mit Einverständnis der gegenwärtigen Eigentümer (oder mit einem Anspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz für Berlin).
Nicht Pate, aber Namensgeber und Vorläufer des Quartier Latin
Namensgeber des Quartier Latin ist natürlich das Pariser Viertel diesen Namens, aber es gab auch in Berlin ein Viertel, das diesen Namen trug, zwar nicht auf dem Stadtplan, aber in der Presse: Analog dem Pariser Studentenviertel wurde auch in Berlin um die Jahrhundertwende (1900) die Gegend zwischen dem Oranienburger Tor, dem Hamburger Tor und dem Stettiner Bahnhof (heute: Nordbahnhof) als Quartier Latin bezeichnet, weil dort viele Studenten wohnten (Bild 3) und Studentenkneipen existierten („Strammer Hund“), natürlich nicht nur wegen der Nähe zur Universität und den Kliniken, sondern auch wegen der günstigen Zimmerpreise. Vergleichbare Viertel gab es auch in München und Königsberg.

Bild 3: Artikel aus Berliner Tageblatt und Handels-Zeitung, vom 22. Oktober 1889, Seite 6.
Einen Namensgeber ganz anderer Art gab es zwischen 1931 und 1936 im äußersten Westen des Lützow-Viertels, an der Ecke der Kurfürstenstraße zur Nürnberger Straße, wo sich ein Lokal mit diesem Namen befand. Am 27. Juli 1931 gründete der Kaufmann Henri Dajou eine Gesellschaft namens Dajou´s Unterhaltungsstätten-Betriebs-Gesellschaft mit beschränkter Haftung mit Sitz in Berlin (Handelsregister B Nr. 46109) und einem Stammkapital von 20.000 Reichsmark (Bild 4). Gegenstand: Betrieb von Gast- und Unterhaltungsstätten in Berlin. Zu diesem Zeitpunkt war Dajous Adresse noch Carmerstraße 8 (Charlottenburg), aber bereits 1932 eröffnete er an der Kurfürstenstraße 89, wo zuvor das italienische Restaurant Aida gewesen war, das Restaurant Quartier Latin, das dort bis 1937 bestand (Bild 5).

Bild 4: Deutscher Reichsanzeiger vom 7. August 1931, Seite 11.

Bild 5: Adressbuch 1936 für die Kurfürstenstraße 89.
Dajou geriet schnell in Konflikt mit dem Gesetz: 1935 ermittelte die Kriminalpolizei gegen Dajou wegen Devisenhintergehen, nachdem seine Angestellten gegen ihn Anzeige erstattet hatten (3). Bei dieser Gelegenheit wurde ermittelt, dass Dajou, am 1. September 1909 geboren, jüdischer Staatsbürger von Nicaragua war und bis 1929 Leib Moritz Kohn hiess; er hatte in Rumänien seinen Namen geändert. Am 27. Juli 1936, genau fünf Jahre nach der Gründung, wurde die Gesellschaft aufgelöst, Dajou versuchte sein Etablissement zu verkaufen, „weil die Konkurrenz, durch den Olympia-Erfolg der „verniggerten“ Lokale neidisch gemacht, Sturm läuft“ (4). Offenbar gab es im Quartier Latin in den Wochen und Monaten vor der Olympiade im August 1936 in Berlin ein internationales Unterhaltungsprogramm, das den Nazis, trotz der verordneten Zurückhaltung mit Rücksicht auf die internationalen Gäste der Olympiade, ein Dorn in den Augen gewesen sein muss; auch wenn sie dort wohl auch verkehrten (Bild 6). Schließlich floh Dajou vor seiner Inhaftierung mit unbekanntem Ziel; sein weiterer Verbleib ist ungewiss, seine Geschichte ist noch nicht geschrieben.

Bild 6: Pariser Tageszeitung: quotidien Anti-Hitlerien vom 30. April 1937, Seite 2.
Zurück an die Potsdamer Straße 96: Der eigentliche Pate des Quartier Latin war das Blaue Veilchen – dazu beim nächsten Mal mehr.
Literatur
- Marco Saß, Henry Steinhau: Quartier Latin. Berlins legendärer Musikladen 1970 – 1989. Berlin, L&H Verlag 2018.
- https://www.rockinberlin.de/index.php?title=Quartier_Latin – Konzerte_im_Quartier_Latin
- Akten im Landesarchiv: A Rep. 358-02 Nr. 341/1, Nr. 124848 bis 124850; A Rep. 342-02 Nr. 57128, A Pr. Br. Rep. 030-02-05 Nr. 20.
- Pem´s Privat Berichte (PPB) vom 15. Oktober 1936, Seite 2 (Deutsches Exilarchiv).

Hallo Paul Enck,
Danke für die Erwähnung unseres Buches über den legendären Musikladen Quartier Latin sowie die Geschichte des Gebäudes, in dem das Quartier untergebracht war und heute das Wintergarten Variéte agiert. Mehr zum Buch übrigens hier: https://www.steinhau.com/quartierlatin-berlin/wordpress/
In Ergänzung Ihres Beitrages, gebe ich gerne folgende Informationen: Der „jemand” für die Recherche in den Bauakten des Gebäudes waren Marco Saß und ich, wir haben diese vor Ort in dem Archiv (seinerzeit im Rathaus Tiergarten) gründlich gelesen und darin ausführlich recherchiert. Die Unterlagen sind sehr umfangreich und aufschlussreich, wie wir in unserem Buch auch wiedergeben.
Die Anzahl der Konzerte und Veranstaltungen, die im Quartier Latin von 1970 bis Ende 1989 stattfanden, haben wir ebenfalls äußerst gründlich recherchiert. Dazu dienten mehrere Nachlässe von Konzertveranstalter/innen, also Plakate, Programmhefte, Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften und Weiteres. Zudem recherchierten wir in Zeitungsarchiven aus dem gesamten genannten Zeitraum, um anhand von Anzeigen, Vorankündigungen, Nachberichten und Artikeln zu verifizieren, an welchen Tagen welche Veranstaltungen stattgefunden haben. Aus diesen Primärquellen-Recherchen ergaben sich Gewissheiten, etwa durch mehrfache Erwähnungen eines Events in mehreren Publikationen. Zudem haben wir Tickets und weitere Dokumente gesammelt, etwa Live-Aufnahmen auf Platten oder als Video, und als Recherchequellen genutzt. Daher sehen wir die von uns genannte Anzahl der Veranstaltungen dort als die am bestmöglichsten verifizierte und belastbarste.
Ihre Recherchen zu generellen Quartier Latin-Spuren in Berlin finde ich sehr spannend.
Wenn Sie mögen, können wir uns gerne mal treffen und austauschen,
Das würde mich – und Marco gewiss auch – durchaus interessieren.
Mit besten Grüßen, Henry Steinhau
Lieber Herr Steinhau: danke für die Rückmeldung und Kommentare zu meinem Beitrag über Ihr Buch – ich würde mich gern mit Ihnen – und Marco Saß – mal zusammensetzen, ich melde mich dazu separat. Herzlichst, Paul Enck